Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
Bewegung geworden.
Der Himmel, zuvor grau und trüb, sieht spektakulär aus, drohend und verheißungsvoll;
dunkle Wolken im Westen, blaue Risse im Osten.
    Sydney schaut zum Haus hinauf. Die Nonnen und der Priester. Die ledigen
Mütter. Die Marxisten und das Mordopfer. Die Theaterautorin und der Maler. Hat der
Mann allein gegessen, sich jeden Abend Landkarten angesehen und die Orte gekennzeichnet,
von denen er meinte, dass man seine Söhne dorthin geschickt hatte? Und dann die
Witwe des Piloten, die mit dem Presserummel fertig werden musste. Sydney erinnert
sich der Gesichter der Piloten im Fernsehen. Sie sahen so normal aus.
    Mit dem Blick folgt sie der Linie des Hausdachs bis zur vorderen Veranda.
Hat es noch andere Hochzeiten im Haus gegeben? Ja, vermutlich viele Hochzeiten,
Geburten und Tode. Sie hofft, dass alles in allem das Haus mehr Freude als Schmerz
erlebt hat.
    »Sie alle sind wegen der Schönheit hergekommen«, sagt Mr. Edwards.
    Sydney geht durch das Haus und bewundert seinen Schmuck. Julie und Hélène
sind dabei, die Treppe mit Bändern und weißen Schleifen zu dekorieren. Auf dem Esstisch
und dem Couchtisch im Wohnzimmer stehen Schalen mit weißen Rosen. In der Küche herrscht
Geschäftigkeit. Eine lebhafte Mrs. Edwards dirigiert den Verkehr. Sydney tritt
an eines der hohen Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichen, und schaut zum
Strand hinaus. Keine Spur von Jeff. Vielleicht ist er gerade jetzt oben im Jungszimmer
und kleidet sich zum Probeessen an. Sie hofft, dass er und Ben sich gesehen und
miteinander gesprochen haben. Jeff wird trotz allem gerührt sein, dass Ben endlich
doch gekommen ist. Wenn es nichts anderes ist, so doch mindestens eine Kapitulation
Bens. Kein Mensch könnte auf so eine Geste mit Zurückweisung antworten.
    Sydney sieht sich nach Ivers um. Ihr Vater macht vermutlich einen Spaziergang.
Ihre Mutter, das weiß sie, hat sich in ihrem Zimmer hingelegt. Von Zeit zu Zeit
leuchtet die Veranda in unerwartetem Sonneneinfall auf und versinkt dann wieder
im Schatten.
    Jeff, der alle seine Sachen in Sydneys Zimmer gebracht hat, sitzt auf
dem zweiten Bett neben ihrem Koffer. Kleiderstapel sind auf dem Stuhl und auf dem
Boden abgelegt worden. Jeff trägt immer noch seine Badehose und sein T-Shirt. Seine
sandigen Füße scheint er gar nicht zu bemerken.
    »Du hättest mich ruhig warnen können«, sagt er.
    Darauf gibt es keine Antwort. Sydney schließt die Tür. Ja, sie hätte
ihren Verlobten darauf aufmerksam machen können, dass sein mit ihm verfeindeter
Bruder sich im Haus befindet. Stattdessen hat sie im Garten beim Familienoberhaupt
Zuflucht gesucht.
    »Das hast du eingefädelt, richtig?«, fragt er. »Er hat es praktisch gesagt.«
    Sydney fällt auf, dass Jeff es vermeidet, Bens Namen zu sagen.
    »Ich dachte, es würde dich freuen«, antwortet sie.
    Jeff zieht die Augenbrauen hoch.
    »Habt ihr miteinander gesprochen?«, fragt sie.
    »Natürlich haben wir miteinander gesprochen.«
    Sydney fragt nicht, was gesprochen wurde. Sie weiß gerade gar nicht,
ob sie es überhaupt wissen will.
    »Es lag wie ein Schatten auf allem«, entgegnet sie zu ihrer Verteidigung.
»Ich habe es gefühlt. Und alle anderen auch. Es war etwas, das wir nie vergessen
hätten. Das niemals wieder hätte in Ordnung gebracht werden können.«
    »Du hättest vorher mit mir reden sollen.«
    Sie lehnt sich an den Schrank. »Jeff.«
    »Was?« Er sieht sie kaum an.
    »Ich finde, du bist uneinsichtig.«
    Mehr als das, denkt sie: Das Wort bockig kommt
ihr in den Sinn.
    »Ben und ich haben unsere Differenzen«, sagt Jeff. »Ich glaube nicht,
dass sie jemals in Ordnung kommen. Es tut mir leid, wenn dir das nicht gefällt.
Mir gefällt es auch nicht, aber so ist es nun mal. Und eines kannst du mir glauben,
aus Liebe zu mir ist er bestimmt nicht hergekommen.«
    »Warum dann?«, fragt Sydney.
    Jeff schweigt, nicht bereit oder nicht fähig, die Frage zu beantworten.
    »Jeff, hör mal.«
    »Was?«
    »Mein Großvater hat mir früher oft eine Geschichte erzählt, die von ihm
und seinem Bruder handelt«, sagt Sydney. »Eines Tages, als er noch ein Junge war,
kam sein Bruder in sein Zimmer und schlug ein Dutzend Modellflugzeuge, die er mit
großer Sorgfalt aus Balsaholz gebaut hatte, kurz und klein. Ich weiß nicht, warum.
Sie haben sich geprügelt. Danach haben sie sechs Jahre lang nicht mehr miteinander
gesprochen.«
    Jeff sitzt mit verschränkten Armen auf dem Bett. Sie spürt, dass er kaum
hinhört.
    »Dann kam der Zweite

Weitere Kostenlose Bücher