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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Weltkrieg«, erzählt Sydney weiter, »und der Bruder
meines Großvaters musste mit dem Army Air Corps nach Europa. Seine Eltern begleiteten
ihn zum Bahnhof, aber mein Großvater weigerte sich, mitzugehen.«
    Sydney fragt sich, wieso ihr diese Geschichte plötzlich in den Sinn gekommen
ist, an die sie seit Jahren nicht mehr gedacht hat. Weil Mr. Edwards den Zweiten
Weltkrieg erwähnt hat? Wegen des Malers, der auf die Heimkehr seiner Söhne wartete?
    »In letzter Minute dachte mein Großvater daran, dass er seinen Bruder
vielleicht nie wiedersehen würde, dass er in Europa fallen könne. Er rannte den
ganzen Weg zum Zug und kam an, als der Zug gerade anfuhr. Er gab seinem Bruder noch
die Hand und sagte ihm auf Wiedersehen.«
    Jeff hebt den Kopf. »Und der Bruder ist gefallen.«
    »Nein, so dramatisch war es nicht.«
    »Was willst du also sagen?«
    »Na ja, ich finde, Ben ist zum Bahnhof gekommen«, erklärt Sydney.

 
    IVERS RATTERT, WIE IMMER, Baseballinformationen
im Schnellfeuertempo herunter.
    »Es ist jedes Jahr das Gleiche. Die Sox gegen die Yankees. Der 4. Juli. Wells
wirft für New York, Lowe für Boston. Da könnte man diesmal vielleicht an eine Niederlage
denken, aber Jacksons Schlagmänner sind heiß – zweiundvierzig Home Runs im Juni,
zwanzig in den letzten fünf Spielen, elf in den letzten zwei –, da kann alles passieren.
Setzt eure Kohle auf die Sox, rate ich euch. Sydney, hab ich dir eigentlich schon
gesagt, dass ich dir demnächst den Hals dafür umdrehen werde, dass du ausgerechnet
morgen Nachmittag in den heiligen Stand der Ehe trittst?«
    »Wir stellen einen Fernseher auf die Veranda«, verspricht sie.
    »Wirklich?«, fragt Ivers hoffnungsvoll.
    »Aber nein, natürlich nicht, Ivers«, erwidert Sydney lächelnd.
    Sahir, Sydney gegenüber, ist in ernsthaftem politischen Gespräch mit
Mr. Edwards. Es geht um die Homosexuellenehe, für die Sahir leidenschaftlich eintritt.
Anna Edwards wirft nervöse Blicke in Julies Richtung. Mit einer komplizierten Abfolge
von Augenbewegungen und Handzeichen, die den Eindruck erwecken, sie wäre von nervösen
Ticks geplagt, versucht sie offenbar, ihrem Mann zu verstehen zu geben, dass er
das Thema wechseln soll; aber entweder bemerkt er die Gesichtsverrenkungen seiner
Frau nicht oder denkt nicht an die sexuelle Orientierung seiner Tochter. Julie wird
nicht um ihre Meinung zu der Frage gebeten.
    Ganz den Pflichten des Gastgebers nachkommend, unterhält sich Jeff angeregt
mit Sydneys Mutter darüber, wie man mit dem Auto am besten von Westmassachusetts
nach Portsmouth kommt. Der wahre Grund für Jeffs eifriges Interesse ist jedoch,
das weiß Sydney, dass er auf diese Weise so tun kann, als bemerkte er Ben nicht,
wenn dieser endlich zum Essen kommt.
    Der weiß gedeckte Tisch ist mit Rosen geschmückt, die Gäste sind festlich,
aber leger gekleidet. Klassische Hemden, die Ärmel aufgerollt, keine Krawatten.
Sydney bemerkt, dass Jeff Flip-Flops anhat, vielleicht weil er seine Schuhe oben
im Jungszimmer gelassen hat. Diesen Raum wird er jetzt um keinen Preis betreten.
    Sydney kann gar nicht umhin, Sahirs Schuhe zu bemerken – dunkle, glänzend
geputzte Straßenschuhe mit dicker Sohle. Sie erinnern sie an Männer in den Fünfzigerjahren,
als teure Schuhe als Zeichen guter Lebensart galten.
    Ben kommt so lässig die Treppe herunter, als käme er nach einem wichtigen
geschäftlichen Anruf nur um Minuten zu spät zu einem etwas weniger wichtigen Anlass.
Er hat geduscht und sich umgezogen und ist gerade dabei, seine Ärmel aufzurollen,
als er ins Esszimmer tritt. Die eigentliche Probe hat er versäumt, ein merkwürdig
blutloses kleines Schauspiel, bei dem die Hauptpersonen vor einem weißen Sofa stehend
ihren kurzen Text sprachen. Der Inszenierung fehlten Choreografie, Scheinwerferlicht
und jegliche Spannung. Jeff insbesondere wirkte hölzern, als wäre das alles nicht
seine Idee. Sydney ärgerte sich und versuchte mit Ivers’ Unterstützung die Situation
mit nervösem Gelächter zu retten. Worüber sie eigentlich lachten, hätte sie nicht
sagen können. Anna Edwards, auf dem anderen Sofa, seufzte demonstrativ, wie über
ungezogene Kinder.
    Sydneys Aufmerksamkeit teilt sich – richtet sich halb auf Ben, halb auf
Jeff, weiterhin mit ihrer Mutter ins Gespräch vertieft, weiterhin angestrengt bemüht,
Bens Erscheinen zu ignorieren. Julie hingegen, in ihrem rückenfreien schwarzen Kleid,
springt auf und fällt Ben um den Hals. Mr. Edwards macht ihn mit dem Geistlichen
und

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