Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Gesellschaft am Tisch. Sydney
fühlt sich an den Tag erinnert, an dem Victoria kam; wie Ben damals von der Höhe
des Treppenabsatzes aus die Szene beobachtete.
Nach ihrem früheren Gespräch mit Mr. Edwards muss Sydney nun unwillkürlich
an die Menschen denken, die vielleicht alle schon in diesem Zimmer gesessen und
gegessen haben. Die Schwestern in ihrer dunklen Tracht (haben sie im Winter nicht
gefroren?). Der Literat (der vermutlich bedeutende Leute mit dreikalibrigen Namen
zu Gast hatte – Edward Everett Hale und John Greenleaf Whittier?). Die ledigen Mütter
mit ihren neugeborenen Kindern (oder wurden ihnen die Kinder schon genommen, ehe
sie aus dem Wochenbett aufstanden?). Und wie steht es mit der Theaterautorin? Oder
dem Maler, dessen drei Söhne im Krieg waren? Sydney sieht ihn allein an einem großen
Tisch sitzen, die Stühle rundherum leer, auf der Kirschholz- oder Mahagoniplatte
Karten vom Rheinland und von Belgien ausgebreitet. Und dann war da natürlich noch
die Witwe mit ihrer Tochter. Nein, die beiden haben sicher nicht im Esszimmer gegessen.
Die Mahlzeiten, wenn es überhaupt richtige Mahlzeiten gab, werden an einem Tisch
in der Küche eingenommen worden sein, während draußen vor den Fenstern die Journalistenmeute
tobte.
Sydney trinkt einen Schluck Wein. Die Geschichte des Hauses, so scheint
es ihr, während sie die Menschen betrachtet, die jetzt an dem Walnusstisch mit dem
unregelmäßig gearbeiteten Rand sitzen, ist blasser geworden, ist heute weniger dramatisch,
weniger bedeutsam als früher. Kaum etwas scheint im Vergleich zu Flugzeugabstürzen,
einem Mord, ledigen Müttern und einem Krieg der Erwähnung wert. Sydneys Aufenthalt
im Haus wird in künftigen Jahren keinen Menschen interessieren und bestimmt keinen
Stoff für irgendwelche beeindruckenden Anekdoten liefern.
Aber, fragt sie sich und stellt ihr Glas ab, gibt es denn nicht auch
an diesem Tisch Geschichten, von denen jede eine eigene dramatische Spannung aufweist,
auch wenn der Ausgang bislang unbekannt ist? Sie denkt an das junge Mädchen, das
aus Liebe von zu Hause weggelaufen ist. Wird das zweifelhafte Glück des Mädchens
von Dauer sein? An die anscheinend weit zurückreichende Fehde der beiden sympathischen
Brüder. Wird einer dem anderen verzeihen? An die Frau des Hauses, die kaum fähig
ist, ihre Eifersucht auf die junge Frau zu verbergen, die nun bald zur Familie gehören
wird; an die Mutter, die eben jetzt wieder ihren Sohn berührt, als hätte sie Angst,
er könnte sich jeden Moment in Luft auflösen. Und sie denkt auch an ihre eigenen
Eltern, die einmal eine Familie bildeten, die einander vermutlich einmal geliebt
haben und jetzt getrennt zusehen, wie ihre Tochter, ihr einziges Kind, ein drittes
Mal heiratet.
Und wie steht es mit dem Geistlichen, der so von den thailändischen Shrimps
schwärmt? Ist er vielleicht ein verkappter Transvestit? Betrügt er beim Billard?
Oder ist er genau das, was er zu sein scheint, ein mäßig frommer Mann, der den Freuden
eines hübschen Zimmers mit Meerblick und dem Genuss eines köstlichen Mahls nicht
abhold ist?
»Ich habe mich noch einmal über die Wetteraussichten informiert, bevor
ich heruntergekommen bin. Morgen Nachmittag soll es schön werden«, bemerkt Ben,
bemüht, einen positiven Beitrag zu leisten. Oder soll die Bemerkung zeigen, dass
er großzügig genug ist, von persönlichen Zwistigkeiten abzusehen?
Nachtisch und Kaffee werden auf der Veranda gereicht werden, verkündet
Mrs. Edwards. Sydney steht auf und wartet auf Jeff, der wiederum auf Sydneys Mutter
wartet, die nur unter größten Schwierigkeiten von ihrem Stuhl hochkommt. Arthritische
Knie, erklärt sie, ein Leiden, über das sie häufig klagt, obwohl sie nicht geneigt
scheint, etwas dagegen zu unternehmen. Es versteht sich, dass die »jungen Leute«,
wie Mr. Edwards sie tituliert, eine Weile den »älteren Herrschaften« auf der Veranda
Gesellschaft leisten werden, ehe sie sich umziehen und zum Strand hinuntergehen,
wo man ein Feuer machen und, so glaubt man jedenfalls, beträchtlich mehr Spaß haben
wird.
Jeff entschuldigt sich, um hinauszugehen und Peter und Frank zu begrüßen,
die wegen eines Verkehrsstaus erst jetzt angekommen sind. Nur weil es die Situation
so will, setzt Ben sich auf einen harten Teakstuhl neben Sydney. Hätte er den freien
Platz verschmäht, so hätte es die Spannung zwischen den Brüdern nur noch deutlicher
gemacht, als sie ohnehin schon ist, und das ist nicht Bens Stil. Eine Zeit
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