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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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dazu veranlassen, uns häufiger zu besuchen. Wer
kann einem Haus am Meer widerstehen? Und später, dachte ich, würden Enkelkinder
kommen, und sie würden gern hier sein.« Seine Unterlippe bebt. »Der Strand. Das
Wasser…«
    Er schüttelt den Kopf. Sein Gesicht verfällt. Er zieht ein weißes Taschentuch
heraus.
    Sydney legt ihm die Hand auf den Arm.
    »Du gibst uns doch Bescheid…«, sagt er und drückt das Taschentuch an
sein Gesicht.
    »Ich habe ihn geliebt«, sagt Sydney.
    Mr. Edwards nickt.
    »Ich gebe euch Bescheid«, sagt sie.

 
    DER ZUG FÄHRT AN VERLASSENEN FABRIKEN
VORÜBER, an Häusern, die mit Asbestzementschiefer gedeckt sind, an einer
Autowerkstatt, die sich Toms Bodyshop nennt. Sydney stellt sich vor, die Atome ihres
eigenen Körpers lösten sich in Chaos auf, würden aus ihrer Mitte geschleudert.
    Die Fahrt soll eine Stunde dauern. Oder zwei. Sie hat kein Zeitgefühl.
    Ein junger Mann im weißen Hemd nähert sich ihr. Wird er sie ansprechen?
    »Entschuldigen Sie«, sagt er, »aber das ist mein Platz.«
    Sydney schaut in die Höhe und bemerkt im Gepäcknetz über sich einen kleinen
Matchbeutel. Sie riecht gebratenen Schinken im Atem des jungen Mannes. Da sie ihren
Beinen nicht traut, rutscht sie einfach zum Fensterplatz hinüber.
    Etwas verlegen setzt der junge Mann sich zu ihr. »Bis wohin fahren sie?«,
fragt er.
    Sydney öffnet den Mund.
    »Boston?«
    Sie nickt.
    »Zum Einkaufen?«, fragt er. »Ins Theater?«
    Sydney hätte diese Fragen in jeder Situation aufdringlich gefunden. Jetzt
sind sie eine Qual.
    »In die Stadt.« Mehr bringt sie nicht heraus.
    Der Zug fährt an Häusern vorüber, an Bauernhöfen und Heureitern. Sydney
versucht, sich einzureden, sie wäre in England. Sie fragt sich, ob nun ihr ganzes
Leben ein Versuch sein wird, sich einzureden, sie wäre anderswo.
    Nach der Ankunft des Zuges in Boston folgt Sydney den Wegweisern zur
Untergrundbahn Park Street. Auf dem Weg zum Straßenaufgang stellt sie fest, dass
die Rolltreppe außer Betrieb ist. Sie muss ihren schwarzen Koffer holpernd die Treppe
hinaufziehen. Als sie oben ankommt, ist der Griff zerbrochen.
    Angezogen von der glänzenden goldenen Kuppel, geht Sydney vom Untergrundbahnhof
Park Street aus zu Fuß in Richtung State House. Sie bildet sich ein, dass ihr schon
eine praktische Idee kommen wird, wenn sie die Anhöhe erreicht hat.
    Oben setzt sie sich auf eine Steinstufe. Sie hätte vom Bahnhof aus ein
Taxi nehmen und den Fahrer um Rat fragen sollen. Sie schaut den Hügel hinunter.
Ein Portier hilft einem Mann beim Ausladen seines Gepäcks aus dem Auto. Sie steht
auf und geht auf die beiden zu. Als sie bei ihnen ankommt, entdeckt sie den Eingang
zu einem Hotel von so viel vornehmer Diskretion, dass es sich allem Anschein nach
anstelle eines Namens mit römischen Ziffern begnügt. Sydney tritt durch eine Drehtür
in ein Foyer.
    Es könnte ein Klub sein. Die Holztäfelung und der Marmorboden haben ein
entschieden männliches Flair. Schwarzgraue Sessel gruppieren sich unter einer Wanduhr
mit goldenem Strahlenkranz. Eine mit Holz abgesetzte Glaswand verbirgt einen Empfang.
Kleine Metalltische, Skulpturen ähnlich, stehen im Raum verteilt. Sydney hat nur
einen Wunsch, sich zu setzen, und das tut sie. Nichts in diesem Foyer erinnert sie
an irgendein Hotel, in dem sie schon einmal gewesen ist. Schon mal ein Vorteil.
    Hinter ihr befindet sich eine Marmortreppe mit goldenem Geländer. Sie
wirft einen Blick auf die goldene Strahlenuhr. Zwanzig nach sechs. Wären sie und
Jeff jetzt auf dem Weg zum Flughafen?
    »Kann ich Ihnen behilflich sein?«, fragt ein junger Mann hinter dem Empfangstisch.
Er trägt eine schwarze Uniform und scheint Ausländer zu sein. Osteuropäer? Rumäne?
    Sydney erhebt sich so mühsam, als wäre sie an einem Tag um Jahrzehnte
gealtert. Sie zieht den Koffer mit dem zerbrochenen Griff hinter sich her. Zum ersten
Mal, seit sie das Haus der Edwards verlassen hat, wird ihr bewusst, dass sie unter
dem Regenmantel immer noch ihr lachsfarbenes Hochzeitskleid anhat.
    »Waren Sie schon einmal bei uns?«, erkundigt sich der junge Mann.
    Sydney schüttelt den Kopf.
    Er gibt irgendwelche Informationen in den Computer ein, obwohl sie ihm
gar keine geliefert hat. Sie fragt sich, was er schreibt. Frau
in Notlage? Schäbiger Koffer mit zerbrochenem Griff? Hat noch nicht bei uns gewohnt?
    »Eine Erwachsene?«, fragt er.
    Die Frage scheint überflüssig. »Ja«, antwortet sie.
    Er schiebt ein Blatt Papier über den Tisch. Der

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