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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Zimmerpreis ist höher
als vorausgesehen, aber jetzt wieder zu gehen ist undenkbar.
    »Zimmer neun-null-sechs«, sagt er. »Es ist sehr hübsch«, fügt er hinzu.
    Der Aufzug hat eine Glasfront. Sydney verspürt einen Anflug von Schwindel,
als es aufwärtsgeht. In jedem Stockwerk steht ein Tisch mit einer Schale Äpfeln,
was vermuten lässt, dass eines wie das andere aussieht. Aber so ist es nicht. Während
der Fahrt versucht Sydney, Unterschiede auszumachen. In der achten Etage angelangt,
weiß sie es: Auf jeder Etage hängen andere Bilder.
    Der Schlüssel ist goldfarben und raffiniert, und sie hat beträchtliche
Mühe, ihn ins Schloss zu schieben. Sie stellt sich vor, dass dies ein Hotel ist,
in dem mächtige Männer sich treffen. Sie stellt sich elegant gekleidete Frauen mit
scharlachrotem Lippenstift und passenden Schuhen vor.
    Nach dem Foyer hätte sie so ein Zimmer eigentlich erwarten können. Die
Wände sind in einem satten Kaffeebraun gestrichen, auf dem Schwarz-Weiß-Fotografien
von Wasserspeiern hängen. Sydney hat ein Eckzimmer mit sechs großen Fenstern. Draußen
sind die Fenster von viel Ornamentik umgeben, sie kommt sich beinahe vor, als wohnte
sie hoch oben in einem reich verzierten Dom. Sie könnte in Italien oder in Prag
sein, obwohl die eher das Männliche betonende Kompaktheit des Raums sehr amerikanisch
ist. An einer Wand steht ein Himmelbett mit einer dunklen Bespannung.
    Sydney geht im Zimmer umher und prüft dies und das. In einem Holzkasten
entdeckt sie Briefpapier. Der Fernsehapparat ist in einem Schrank verborgen. Sie
schaltet ihn ein. Die Stimmen sind hart und schrill. Die Worte nichts als Lügen.
    Sie ruft zum Empfang hinunter. »Keine Zeitungen«, befiehlt sie.
    Sie hat einen offenen Kamin, ein Sofa, ein bronzefarbenes Sitzkissen.
Es ist ein schwarzbrauner Sessel da, ähnlich denen im Foyer. Die Türen sind mit
auffallenden Beschlägen versehen. Sie setzt sich auf das Sitzkissen und starrt vor
sich hin. Zu viel muss verarbeitet werden.
    Von der Speisekarte des Etagenservice bestellt Sydney eine Käseplatte.
Sie hat seit dem Apfel beim Frühstück nichts mehr gegessen. Sie wollte nicht, dass
ihr Bauch unter dem Seidenkleid hervorsteht. Das waren Sorgen, denkt sie jetzt.
    Sie vertauscht das Hochzeitskleid, das sie im Badezimmer zu Boden fallen
lässt, mit einem Bademantel des Hotels. Als sie den Büstenhalter auszieht, entdeckt
sie das blaue Taschentuch, das sie hineingesteckt hat. Zum ersten Mal, seit Jeff
in Badehose und Schwimmweste ins Haus getreten ist, muss Sydney weinen.
    All die Arbeit, die Julie da hineingesteckt hat, denkt sie, während sie
mit den Fingern über die blauen Quadrate streicht. All die Liebe.
    Sydney hebt das Hochzeitskleid nicht auf. Sie wird es dem Zimmermädchen
liegen lassen. Vielleicht wird sie es dem Zimmermädchen schenken.
    Sie lässt sich ein Bad einlaufen und gleitet ins Wasser. Wenn sie sich
nicht bewegt, bleibt das Wasser völlig ruhig und glatt. Beruhigend.
    Kein Bodysurfing hier.
    Später am Abend, nach dem Bad und der Käseplatte, ruft Sydney ihre Mutter
an.
    »Ich bin hier«, sagt sie.
    »Wo?«, fragt ihr Mutter, hörbar erleichtert.
    Sydney nennt das Hotel. »Es ist sehr edel«, fügt sie hinzu.
    »Mach dir keine Sorgen, wenn es teuer ist«, sagt ihre Mutter, eine völlig
untypische Reaktion. »Was ist eigentlich passiert?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortet Sydney. Sie kann ihrer Mutter jetzt nichts
erklären.
    »Ich bin einfach sprachlos«, sagt ihre Mutter. »Er wirkte immer so nett.
Ich hätte ihm so etwas nie im Leben zugetraut.«
    »Ich auch nicht«, stimmt Sydney ihr zu.
    »Was willst du jetzt tun?«
    »Ich weiß noch nicht.«
    »Laufen«, schlägt ihre Mutter vor.
    Sydney nickt. Das ist so ziemlich der vernünftigste Rat, den ihre Mutter
ihr je gegeben hat.
    »Vielleicht ein bisschen einkaufen«, fügt ihre Mutter hinzu und macht
damit den guten Rat gleich wieder kaputt.
    »Was sollte ich denn einkaufen?«, fragt Sydney.
    Sydney legt auf. Das Gespräch hat sie erschöpft. Sie hasst das Telefon.
    Die Füße flach auf dem Boden, lässt sie sich auf dem Bett nach rückwärts
fallen. Eine Zeit lang starrt sie zum Betthimmel hinauf und denkt darüber nach,
was Jeff wohl in diesem Augenblick tut. Ist er noch im Sommerhaus? Ist er in die
Wohnung in Cambridge zurückgekehrt? Oder hat er die Maschine nach Paris genommen?
Hat er vielleicht Victoria angerufen?
    Sydney streift den feudalen Hotelbademantel ab und kriecht unter die
seidige dunkelgraue

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