Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Bettdecke. Sie zieht sich die Steppdecke über den Kopf.
Das Telefon läutet, Sydney hat keine Lust dranzugehen. Aber im letzten
Moment wirft sie doch die Steppdecke ab und greift nach dem Hörer.
»Es tut mir so leid, dass dir das passieren musste«, sagt ihr Vater.
Sydney fällt das jiddische Wort ein. Bashert .
»Aber du weißt ja, was ich immer sage«, fährt ihr Vater fort.
»Dass ich mich nicht unterkriegen lasse?«, meint Sydney.
Einige Tage lang geht Sydney im Hotel ein und aus. Die Portiers nicken.
Die Rezeptionisten am Empfang sagen guten Morgen oder guten Abend, aber sonst kaum
etwas. Sydney findet dieses Arrangement perfekt.
Sie versäumt es, ihr Handy aufzuladen.
Sie rechnet aus, wie viel Geld sie noch auf ihrem Sparkonto hat. Sie
fährt mit dem Aufzug nach unten und handelt mit einem sympathischen jungen Hoteldirektor
namens Rick einen Rabatt aus. Gemeinsam errechnen sie, dass sie zweiundzwanzig Tage
im Hotel wohnen kann, einen Tag länger, als ihre Hochzeitsreise gedauert hätte.
Sydney beschließt, ihren Aufenthalt in Boston als eine Art Antihochzeitsreise zu
sehen.
Sydney stellt fest, dass sie nicht so viel an Jeff und die Edwards erinnert
wird, wenn sie vorsichtig und nicht leichtsinnig ist und ihr Zimmer nur von Zeit
zu Zeit verlässt. Aber in Wirklichkeit sind sie natürlich immer bei ihr.
Das Gefühl ist dem ähnlich, das sie nach Daniels plötzlichem Tod hatte.
Nur wollte sie Daniel damals nicht vergessen.
Gegenüber ist ein Wohnhaus. Stundenlang schaut Sydney, in einem Sessel
mit seidenem Bezug sitzend, aus einem Fenster ihres Zimmers und versucht aus den
Bewegungen, die sie hinter den Fenstern gegenüber erkennen kann, etwas über das
Leben der Leute dort drüben zu erraten. Das erfordert einiges an Phantasie, denn
viel gibt es da nicht zu sehen. Sie erfindet Geschichten, die sie über Stunden beschäftigen.
Manchmal, wenn Sydney im Hotelrestaurant sitzt oder durch die Straßen
von Beacon Hill läuft, denkt sie über eine Version von sich selbst nach, die wusste,
was die Zukunft ihr bringen würde. Wie hätte sie reagiert, hätte man ihr, als sie
mit achtzehn von der Highschool abging, gesagt, dass sie noch vor ihrem dreißigsten
Lebensjahr zweimal heiraten und einmal praktisch vor dem Altar verlassen werden
würde? Hätte sie nach einen Stuhl tasten müssen, um sich setzen zu können? Wäre
sie gespannt gewesen? Erschrocken? Traurig? Hätte sie nicht wissen wollen, warum ?
An einem der Tage, als Sydney in ihrem Zimmer ist, kommt ein Zimmermädchen
zum Saubermachen herein. Sie macht Sydney auf einen Schalter an der Wand aufmerksam,
den Sydney bemerkt, aber ignoriert hat, weil sie nicht wusste, wozu er da ist. »Das
ist der Nicht-stören-Schalter«, erklärt das Mädchen Sydney. »Wenn Sie ihn anmachen,
leuchtet draußen neben Ihrer Tür ein rotes Licht auf, dann wissen alle, dass Sie
nicht gestört werden wollen.«
Sydney schüttelt den Kopf. »Ein Nicht-stören-Schalter«, wiederholt sie
beeindruckt.
Sydney fragt sich, ob Jeff überhaupt begreift, was er ihr angetan hat.
Vielleicht ja, denn er ruft sie nicht an und unternimmt keinen weiteren Erklärungsversuch.
Wenn Sydney an den Jeff denkt, den sie nie wirklich gut kannte – an den Mann, der
in Gedanken oft anderswo war –, erscheint ihr so hinterhältiges Handeln entfernt
vorstellbar. Wer hätte ahnen sollen, was ihm durch den Kopf ging, wenn er, wie sie
so häufig bemerkt hatte, irgendwo in die Ferne starrte? Aber wenn sie dann an den
Jeff denkt, der die Glühbirne auswechselte, an den Mann, der sie bat, seine Frau
zu werden, kann sie sich einen solchen Vertrauensbruch kaum vorstellen. Und wenn
Sydney es ertragen kann und an den Mann denkt, der mit ihr geschlafen hat, ist ihr
sein Verhalten völlig unerklärlich.
Manchmal erwacht Sydney mit der Erinnerung an den Moment, als Jeff am
Nachmittag ihrer Hochzeit in ihrem Zimmer stand und erklärte, warum er sie nicht
heiraten könne, dass alles nur ein raffiniertes Spiel gewesen sei. Sie erinnert
sich an den Schock. Es war nicht viel anders gewesen als damals, denkt sie manchmal,
als sie erfahren hatte, dass Daniel in einem der besten Lehrkrankenhäuser der Welt
gestorben war. Die Nachricht hatte sie betäubt; sie hatte sie nicht begriffen. Ihr
Bewusstsein hatte sich geweigert, die Fakten zu akzeptieren. Aber sie weiß, dass
sich mit der Zeit – war es denn nicht auch bei Daniel so? – eine Art notwendiger
Hinnahme entwickeln wird, eine Hülle wie bei einem Hummer, wenn
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