Die Nacht Der Jaegerin
übliche Geschichte –, und dieser Alpha-Kurs hat ihr geholfen. Ist ja eigentlich nichts weiter als ein Grundkurs in Glaubenslehre, aber sie sagt, am Ende hat sie den Heiligen Geist in ihrem Herzen gefühlt wie einen großen weißen Vogel, der mit den Flügeln schlägt. Das waren ihre Worte, Frau Pfarrer. Als ob der weiße Vogel aus ihrer Brust zu entkommen versuchte und ...», Alice breitete die Arme aus, «... die ganze Welt mit Liebe und der Heilung aller Gebrechen erfüllen wollte.»
«Wie schön.» Merrily staubte weiter das Chorgestühl ab und fragte sich, wohin dieses Gespräch führen würde.
«Aber wir verhindern, dass es dazu kommt, verstehen Sie?» Alice kam zur Kanzeltreppe, um die mit Blumen gefüllte Zinnvase zu holen, die sie dort abgestellt hatte. «Wir lassen den Heiligen Geist nicht hinaus. So sind wir Menschen eben. Wir fürchten uns alle davor, uns zu öffnen, also halten wir ihn in seinem Käfig gefangen, den guten alten Heiligen Geist. Das hatte ich vorher noch nie verstanden.» Sie wieselte zurück und stellte die Zinnvase auf den Altar. «Haben Sie schon einmal überlegt, so einen Alpha-Kurs abzuhalten, Frau Pfarrer?»
«Na ja, es ist ...»
«Nein. Sie haben vollkommen recht. Es ist nicht
notwendig.
» Alice stapfte wieder zur Kanzeltreppe. «Ich habe gehört, was die arme Jenny Driscoll, Gott hab sie selig, über dieses Engelslicht über der Kirche von Ledwardine gesagt hat, und jetzt verstehe ich genau, was sie meinte. Es ist über uns alle gekommen, so ist es nämlich. Ich zum Beispiel bin bloß zu Ihren Sonntagabend-Gottesdiensten gekommen, weil jemand meinte, es würde nicht gesungen. Mit einer Stimme wie meiner singt man lieber nicht, wenn man es irgendwie vermeiden kann. Da würden ja die Engel vor Schreck wieder vom Dach fliegen.»
Alice gackerte vor sich hin. Sie wirkte viel lebhafter als sonst, oder war das Einbildung? Merrily setzte sich auf einen der Chorstühle, und Alice kam herüber, um sich neben sie zu setzen.
«Ehrlich gesagt, Frau Pfarrer, wusste ich am Anfang nicht so richtig, was ich von Ihnen halten soll. Sie waren viel zu nervös auf der Kanzel, als ob Sie nicht genau wüssten, was Sie sagen sollen. Aber das Gebet ist ja nicht alles, oder? Und die Lieder auch nicht, bei denen achtet sowieso keiner mehr darauf, was der Text eigentlich bedeutet. Es geht auch um Ruhe und Besinnung, oder? In solchen Momenten geschehen Dinge.»
«Dinge?» Merrily wurde leicht unbehaglich zumute.
Alice zwinkerte ihr zu, als teilten sie ein großes Geheimnis. Brenda Prossers Stimme schien in der leeren Kirche widerzuhallen:
«Alice hat erzählt, dass sie jedes Zeitgefühl verloren hatte. Sie sagte, es hätte ein Gefühl geherrscht, als wären alle miteinander vereint ... und Teil von etwas, das ... größer war als sie selbst.»
«Es sind Gebete», sagte Merrily, «das ist alles.»
«Sie können es nennen, wie Sie wollen, mir ist es egal», sagte Alice. «Sie sind ja die Exorzistin. Auch was ich davon halten sollte, wusste ich am Anfang nicht. Aber als ich mich dann mal mit Mrs. Hitchin von der Bücherei in Leominster unterhalten habe, meinte sie, es würde eigentlich auf dasselbe hinauskommen.»
«Oh.»
«Jedenfalls», sagte Alice, «wollte ich mal mit Ihnen über meinen Neffen sprechen. Er arbeitet bei dem Reifenhändler in Hereford.»
Merrily sah sie an.
«Asthma», sagte Alice.
Später rief Kent Asprey, der Dorfarzt von Ledwardine, wegen des Marathons an, der im kommenden Jahr stattfinden sollte. Merrily wusste, dass es ihm um etwas anderes ging. So lief das eben in dieser Einöde.
Sie nahm den Anruf in ihrem Spülküchenbüro an und blickte von ihrem Schreibtisch aus durch das Fenster in den triefenden Garten.
«Wie ich sehe, haben Sie sich nicht in die Teilnehmerliste eingetragen», sagte Asprey.
«Sie würden sich auch nicht eintragen, wenn Sie so kurze Beine hätten wie ich.» Merrily zündete sich eine Zigarette an. «Aber ich kann dabei helfen, Wasser an die Läufer zu verteilen.»
«Ist geritzt», sagte er. Sie hörte ihn etwas aufschreiben.
Während sie abwartete, betrachtete sie den alten Apfelgarten hinter der Wiese.
«Ann-Marie Herdman», sagte er. «Sie haben davon gehört, nehme ich an.»
«Ja, eine erstaunliche Sache, oder?» Merrily malte einen Apfel auf ihren Predigtblock.
«Immerhin haben Sie nicht das Wort ‹Wunder› benutzt.»
«Das ist nicht gerade eines von meinen Lieblingswörtern, Kent.»
«Ich ... ich kenne Ann-Marie ziemlich
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