Die Nacht der Schakale
unterirdischen Weg gelang in Frohnau am 17. Mai 1962 unbemerkt 28 Ostberlinern der Ausbruch. Dann wurde der Notausgang durch Verrat versperrt.
Kurze Zeit später erschoß in der Jerusalemer Straße bei einer Massenflucht versehentlich ein Vopo einen anderen. In einer Fluchtröhre an der Heinrich-Heine-Straße kam dann ein 23jähriger ums Leben, zwei weitere blieben schwerverletzt liegen, 13 mußten vor Gericht. Einen Fluchtstollen an der Kiefholzstraße verriet eine Denunziantin; zwei Beteiligte erhielten lebenslänglich, drei bis zu 12 Jahre. Von nun an wurden die in oft monatelanger Arbeit ausgehobenen Notausgänge immer wieder zu einem Tummelplatz von Gewalt, Mißgunst, Verrat, Bestechung, Selbstlosigkeit, Mut und Mord.
Die Volkspolizei verbesserte ihre Methoden, so daß es etwa seit dem Jahr 1965 für Amateure – von wenigen geglückten Ausnahmefällen abgesehen – praktisch unmöglich wurde, für die Menschen, die ausbrechen wollten, etwas zu unternehmen.
In dieser Zeit entstand die organisierte, gewerbsmäßige Fluchthilfe gegen Vorauskasse. Im dunkeln operierende Fluchtfirmen traten an die Stelle idealistischer Helfer. Professionelle unterschiedlicher Qualität lösten die ehrenamtlichen Amateure ab.
Die neuen Operateure lagen im Osten im Visier der Volkspolizei und im Westen im Kreuzfeuer der Vorwürfe, aber wer ihnen in den Arm fiel, versperrte DDR-Bürgern die oft einzige Chance, die Mauer hinter sich zu lassen, und damit den Kindern den Weg zu ihren Eltern, den Frauen ein Zusammenleben mit ihren Männern.
Ein Verbrechen ›Republikflucht‹ kennt der Westen nicht. Wer Beihilfe leistet, kann sich somit auch nicht schuldig machen, es sei denn durch die Verwendung gefälschter Pässe. Da aber nicht selten Geheimdienste im Staatsauftrag solche selbst ausstellen, herrschte bald eine beispiellose Rechtsunsicherheit. Typisch dafür ist, daß im Fall Gartenschläger die Staatsanwaltschaft Lübeck gegen die Helfer des Getöteten ein Strafverfahren wegen ›Diebstahls einer einem Dritten gehörenden Sache‹ einleiteten: Der ›Dritte‹ war die DDR, die ›Sache‹ eine demontierte Selbstschußanlage, wie sie einst im Auftrag von KZ-Kommandanten entwickelt worden war. Um die dubiosen Firmen, die unter Lebensgefahr gegen horrende Summen Menschenschmuggel betrieben, lag und liegt ein Dunstkreis von Duldung, Heuchelei, Zweckdenken, Drohung und Opportunismus.
Fluchtfirmen werden beargwöhnt, ausgenutzt, finanziert, verachtet und benötigt.
Es gab bessere und schlechtere, erfolgreichere und nutzlose, und mit den Jahren wurden die TRASCO sozusagen eine seriöse Adresse in einem unseriösen Gewerbe, ein Markenartikel des Untergrundes. Während man im Schnitt einem von professionellen Fluchthelfern arrangierten Versuch, den Staat der Werktätigen zu verlassen, eine Chance von 60 Prozent einräumte wie Dresslers Erfolgsbilanz – trotz einiger Pannen – eine Quote von mehr als 90 Prozent auf. Die TRASCO arbeitete gründlicher und raffinierter als ihre Rivalen, nahm doppelt soviel Geld und verbürgte sich für ein entsprechend besseres Resultat; sie verwendete modernste Hilfsmittel, und Dressler half keinem weiter, den seine Leute nicht zuvor auf DDR-Gebiet beobachtet und angesprochen hatten. Er setzte sogar Flugzeuge an, die im Grenzgebiet den Radarschirm unterflogen, und er war schlagartig bekannt geworden, als er in einem Omnibus 35 Schweizer Touristen auf einer Sightseeingtour durch die Tschechoslowakei karrte.
Auf einmal rollte ein zweiter Bus an, wiederum mit einem Schweizer Kennzeichen versehen. Er übernahm die eidgenössischen Touristen zur Weiterfahrt nach Prag; das erste Gefährt fuhr mit 35 DDR-Flüchtlingen, ausgestattet mit falschen Pässen, ungehindert in die Freiheit.
Solcherlei Husarenstücke riskierte Dressler immer wieder. Bis vor zwei Jahren hatte er an den gefährlichen Ausflügen in den roten Machtbereich sogar noch selbst teilgenommen. Seitdem organisierte er die Durchbrüche von Westberlin aus. Die TRASCO unterhielt Zweigsitze in München, Frankfurt und Berlin, und sie übernahmen selbst Fälle, die andere Fluchthelfer abgelehnt hatten, freilich nur gegen Kasse.
Mauro Dressler trat gern als Vorkämpfer gegen den Zwangsstaat im Osten auf, aber seine Gesinnung war weder rot noch schwarz und seine politische Heimat weder der Westen noch der Osten – sein Vaterland war das Geld, und je höher sich die Summe addierte, desto patriotischer wurde er.
Die Stasi-Männer von General Lupus
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