Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht der Uebergaenge

Die Nacht der Uebergaenge

Titel: Die Nacht der Uebergaenge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: May R. Tanner
Vom Netzwerk:
herum einige Sitzkissen,
die mit farbigen Seidenstoffen bezogen waren, lagen. Es befand sich nicht nur
Tee auf dem Tablett, er hatte auch Kekse und Früchte mitgebracht. Genau genommen
waren es mit Honig übergossene Pfirsichspalten.
King bemerkte ihren intensiven Blick und zum ersten Mal zuckte sein Mundwinkel
nach oben. Er trug immer noch die Brille und sah irgendwie geheimnisvoll aus.
Wie ein Actionheld aus einem der Kinofilme, die zurzeit so groß in Mode waren.
    „Komm, es ist nur eine Kleinigkeit, die trotzdem Energie
spendet! Traurigkeit zu verarbeiten, benötigt genauso viel Kraft wie der Kampf
gegen einen Gegner… Oder gegen innere Dämonen…“
    King nahm im Lotussitz am Tisch Platz und Nico tat es ihm
gegenüber gleich, ohne Rücksicht auf ihr langes, weißes Kleid zu nehmen, das
sie zur Beerdigung getragen hatte.
Der feine Duft des Tees stieg in ihre Nase und King schenkte ihr mit
schlafwandlerischer Sicherheit ein, wobei er es aus einem hohen Bogen tat, doch
kein Tropfen ging daneben. Neben der Schale entdeckte Nico eine gelbe Blüte,
was ihr erneut einen Schauer der angenehmen Überraschung über den Rücken jagte.
    „Ich mag gelbe Blumen am liebsten… Sie sind wie kleine
Sonnen, die uns nicht unserer Kräfte berauben… Bist du einer von uns ?“,
fragte Nico, nachdem sie eine Weile schweigend gegessen und getrunken hatten.
    King neigte den Kopf: „Ich weiß nicht, wie ihr euch hier in
Amerika nennt… In China werden wir „ zhǒngzú “ genannt. Die
auserwählte Rasse. Ich habe noch nie zuvor mit jemandem gesprochen, der wie ich
ist. Ich habe sie nur gesehen, ohne ihre Nähe zu suchen.“
    „Sie werden Breed genannt. Ich wusste, dass es Männer
gibt, aber sie sollen sehr selten sein. Du stehst nicht unter dem Schutz einer
Familie? Das ist sehr ungewöhnlich…“
    King legte den Kopf scheinbar nachdenklich zur Seite, als
würde er seine Worte abwägen wollen, doch dabei musterte er sie nur aufmerksam
durch die dunklen Gläser der Brille hindurch und war zufrieden, dass es ihr ein
wenig besser zu gehen schien.
„Es war mir zum Schicksal bestimmt. Ich wurde als Säugling in das Kloster von
Songshan gegeben, niemand weiß genau, wer mein Vater ist, aber er muss ein Chúndù gewesen sein…?“
    Nico lächelte mitfühlend: „Immaculate werden sie hier
genannt..“
Jedes weitere Wort erstarb auf ihren Lippen, weil sie ihm nicht zu nahe treten
wollte. Er hatte zwar nicht traurig geklungen, als er von seinem Leben
erzählte, doch irgendwie ahnte sie, dass der Schmerz über das Verlassenwerden
tief drinnen niemals vergessen worden war.
    King ging auch nicht weiter darauf ein, er erhob sich in
einer fließenden Bewegung und kam mit dem Bild zurück, das Nico vorhin im
Schaufenster bewundert hatte. Es sah aus der Nähe noch viel magischer aus. Der
Himmel war violett, die Berge von einem zarten Blau, das in Silber überging und
die Klosteranlage aus einer Mischung von Gelb- und Orangetönen, der manchmal
glitzernde goldene Akzente beigemischt waren.
    „Du hast gute Augen, Nico. Du erkennst alle Zeichen, obwohl
Du die chinesische Sprache gar nicht beherrscht. Wenn Du die Zeichen von Nord
nach Süd und West nach Ost liest, dann bedeuten sie… Das Tal wird dich
niemals vergessen… Unsere Herzen werden einander wieder finden, weil die
Baumwipfel mir den Weg verraten werden, den Du mit deinen Füßen berührt hast …“,
erklärte der Künstler und wies immer auf das passende Schriftzeichen, wobei
Nico ihm mit fasziniertem Blick folgte, als könnte sie in das Bild eintauchen.
    Sie hob die großen, dunklen Augen zu ihm an, deren Blick er ohne
zu blinzeln erwiderte.
„Hast Du den Weg gefunden? Die Worte klingen traurig, aber das Bild spricht von
zufriedener Heiterkeit… Ich verstehe nicht viel von Kunst“, lachte sie dann
verlegen, weil sie einfach intuitiv geraten hatte.
    Kings rechte Augenbraue zuckte kurz nach oben, dann lächelte
er zum ersten Mal seit ihrer Begegnung aufrichtig und offen.
„Du verstehst mehr davon als mancher selbsternannter Kunstkritiker. Ja, Du hast
vollkommen Recht, ich habe den Weg gefunden und er führte mich nun auch zu dir.“
Er legte das Bild beiseite, so dass es auf einem Kissen zu Nicos Rechter zum
Ruhen kam und nahm seine Tasse wieder auf, nachdem er ihnen beiden
nachgeschenkt hatte.
    Nico zog den Tragegurt ihrer farbenfrohen Stofftasche über
den Kopf und suchte das bunte Lederetui in dem Gewühl, in dem sie ihre Papiere
aufbewahrte. Mit einem leisen Laut des

Weitere Kostenlose Bücher