Die Nacht der Wölfe
Erst dann wand sich der Trail zwischen einigen Fichten und Laubbäumen nach unten. Kein idealer Schutz gegen einen Blizzard, aber besser als auf diesem ungeschützten Trail zu bleiben, auf dem man zu schnell die Orientierung verlieren konnte. »Schneller!«, feuerte sie die Huskys an. »Bis zu den Bäumen! Beeilt euch!«
Die Huskys spürten selbst die Bedrohung in der Luft und rannten, als ginge es um ihr Leben. Mit kraftvollen Sprüngen fegte Emmett über den schmalen Trail. Er legte er sich mit vollem Elan ins Geschirr, riss die anderen Hunde mit und sprang den rettenden Bäumen entgegen. Als wäre er schon jahrelang als Leithund unterwegs, dirigierte er das Gespann an den Felsen entlang. Er witterte den Schnee bereits und wusste ganz genau, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis der Wind ihnen die ersten Flocken ins Gesicht trieb.
Clarissa stand mit einem Fuß auf dem Trittbrett und glich mit dem anderen die schlingernden Bewegungen des Schlittens aus, die sich auf einem holprigen Trail wie diesem nicht vermeiden ließen. Auch sie war voll konzentriert, hielt sich mit beiden Händen an den Haltegriffen fest, den Blick stur nach vorn gerichtet, als wollte sie den wilden Sturm auf die Hörner nehmen.
Doch obwohl sie mit jeder Faser ihres Körpers auf den Blizzard vorbereitet war, traf er sie mit solcher Wucht, dass sie beinahe vom Trittbrett geschleudert wurde. Sie lockerte ihren Griff, klammerte sich in derselben Sekunde erneut an die Haltestange und hielt mühsam das Gleichgewicht. Wie vor einigen Jahren, als sie mit ihrem Vater auf hoher See in einen tobenden Sturm geraten war, hatte sie auch diesmal das Gefühl, in einen dunklen Strudel zu geraten. Sie verlor in kürzester Zeit die Orientierung und spürte nur den tobenden Wind, den wirbelnden Schnee und die heftigen Erschütterungen, wenn der Schlitten angehoben wurde und wieder auf den Boden krachte.
Nur fünfzig Schritte von den rettenden Bäumen entfernt, war sie dem Sturm hilflos ausgeliefert. Der Wind und der Schnee peitschten ihr ins Gesicht und raubten ihr fast das Bewusstsein. Die Huskys, an winterliches Wetter gewöhnt, reagierten ebenfalls auf den Blizzard; sie liefen zu weit rechts, dann zu weit links und verließen sich nur noch auf ihren Instinkt. Emmett versuchte angestrengt, die Richtung zu halten, und musste alle paar Schritte erkennen, dass sie vom Weg abgekommen waren. »Vorwärts!«, rief Clarissa. »Nicht aufgeben! Wir haben es gleich geschafft! Wir schaffen es, Emmett! Vorwärts!«
Doch gegen das Schneebrett, das sich über ihnen plötzlich von einem Vorsprung der Felswand löste und nach unten fiel, waren auch sie machtlos. Viel zu spät erkannten sie die drohende Gefahr. Emmett machte noch einen Sprung nach vorn, dann krachte der Schnee auf die Hunde und schleuderte sie vom Trail. Clarissa wurde der Schlitten aus der Hand gerissen. Sie stolperte nach vorn und stürzte über die Böschung, überschlug sich zweimal und prallte mit dem linken Arm gegen einen Felsbrocken. Dann sank sie in den Schnee.
Sie sah noch, wie die Führungsleine des Schlittens an einem verkrüppelten Baum hängenblieb, die Huskys im Tiefschnee liegenblieben, auch der Schlitten kaum etwas abbekam und einige Decken durch die Luft flogen, dann verlor sie die Bewusstsein. »Alex!«, flüsterte sie und schloss die Augen.
11
Als sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachte, spürte sie brennenden Schmerz in ihrem linken Arm. Sie versuchte ihr Gewicht zu verlagern, um den Druck von der Wunde zu nehmen, schrammte dabei an dem Felsbrocken entlang und schrie verzweifelt, als ein gieriges Feuer durch ihren Körper zu jagen schien. Sie blieb vornübergebeugt liegen und wagte kaum zu atmen, aus Angst, damit weiteren Schmerz auszulösen und von dem Feuer besiegt zu werden.
Sie wusste nicht, wie lange ihr Sturz zurücklag. In einer Winternacht im Norden war die Zeit nur schwer zu bestimmen. Es war dunkel und eiskalt, und es konnte spätabends oder frühmorgens sein. Der Blizzard war vorüber, also musste zumindest einige Zeit vergangen sein. Nur noch vereinzelte Schneeflocken rieselten vom Himmel herab. Der Wind war kaum zu spüren, frischte nur noch gelegentlich auf, als bedauerte er, nicht mehr wüten und toben zu dürfen. Schnee wehte in hauchdünnen Schleiern vom Trail herab.
Als der Schmerz einigermaßen abgeklungen war, betrachtete sie ihren verletzten Arm. Ihr Anorak war direkt unter der Schulter eingerissen, und sie spürte trotz der Kälte klebriges Blut unter dem
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