Die Nacht der Wölfin
ein wichtiges Verhör verfolgen mussten, nutzten sie das Wartezimmer vermutlich als Beobachtungsraum. Clay wurde diese Art von Behandlung nicht zuteil; er wurde in ein privates Besprechungszimmer gebeten, kaum dass wir angekommen waren.
Das zweite Fenster war eine vergitterte Öffnung zu einem Käfig, in dem eine Rezeptionistin Mitte zwanzig saß, die für das Telefon, den Empfangstisch und das Wartezimmer gleichermaßen zuständig war. Daneben hatte sie noch mit pausenlosen Anfragen der Beamten nach Schreibdiensten, Ablage und frischem Kaffee zu tun. Fragen Sie mich jetzt bloß nicht, warum das Fenster vergittert war. Vielleicht befürchtete man, sie könnte entkommen. Die drei Stühle im Wartezimmer waren mit mottenzerfressenem altgoldenem Velours und abblätterndem Klebeband bezogen. Ich suchte mir den besterhaltenen davon aus, setzte mich vorsichtig hin, wobei ich darauf achtete, dass meine Haut nicht mit dem Stoff in Berührung kam, und nahm mir vor, meine Kleider in die Wäsche zu tun, sobald ich nach Hause kam. Dann ging ich den Zeitschriftenstapel auf dem Pressspantisch durch.
Als ich wieder aufblickte, stellte ich fest, dass die Rezeptionistin mich mit dem wachsamen Gesichtsausdruck beobachtete, der bei den Leuten normalerweise für Bettler und tollwütige Hunde reserviert ist. Durch das Fenster konnte ich sehen, wie der junge Beamte, der damals nach Stonehaven gekommen war, sich über die Theke beugte und mit ihr sprach. Sie starrten beide in meine Richtung, ich ging also davon aus, dass ich das Thema der Unterhaltung war, und etwas sagte mir, dass es nicht um den bedauerlichen Zustand meiner abgeschabten und ergrauenden Reeboks ging. Er erzählte ihr fraglos von der kleinen Episode im Wald. Genau das, was mir noch gefehlt hatte. Zehn Jahre lang hatte ich daran gearbeitet, mir in Bear Valley einen ordentlichen Ruf zu erwerben, und dann musste ich an einem einzigen Tag alles ruinieren, indem ich an einem kalten Frühlingsmorgen nackt durch den Wald lief und zuließ, dass meine Kleider später zerfetzt gefunden wurden wie nach einem bizarren sadomasochistischen Ritual. Städte wie Bear Valley hatten einen Platz für Frauen wie mich – als Ehrengäste auf dem Scheiterhaufen des jährlichen Grillfestes im Grünen.
Während ich noch in den Zeitschriften herumblätterte, öffnete sich die Tür, und als ich aufsah, kam Karl Marsten herein, gefolgt von Thomas LeBlanc. Marsten trug Chinos, Tausend-Dollar-Lederschuhe und ein Designergolfhemd. Was LeBlanc trug, nahm ich nicht zur Kenntnis. Neben Marsten hätte niemand es zur Kenntnis genommen. Marsten kam auf die beiläufige, absolut natürliche Art eines Mannes ins Zimmer geschlendert, der jahrelang geübt hatte, wie man es anstellt, so beiläufig und absolut natürlich auszusehen. Er hatte die Hände in den Taschen, eben tief genug, um entspannt zu wirken, nicht tief genug, dass sich in den Hosentaschen unkleidsame Beulen bildeten. Das halbe Lächeln in seinem Gesicht verriet genau die richtige Mischung aus Interesse, Langeweile und Erheiterung. Als er sich mit dem Lächeln an die Rezeptionistin wandte, setzte sie sich aufrechter hin und zupfte unwillkürlich ihre Bluse zurecht. Er murmelte ihr ein paar Worte zu, und sie errötete und rutschte auf dem Stuhl herum. Marsten lehnte sich an die Gitterstäbe und fügte noch etwas hinzu. Dann sah er sich nach mir um und verdrehte die Augen. Ich schüttelte nur den Kopf. Das Einzige, was mich mit Karl Marsten versöhnte, war, dass er genau wusste, was für ein Kunstprodukt er war.
»Elena«, sagte er, während er sich auf den Stuhl neben mir setzte. Er hielt die Stimme leise – nicht, dass er geflüstert hätte, aber auf der anderen Seite des Zimmers hätte man ihn nicht verstanden. »Du siehst gut aus.«
»An mir brauchst du nicht zu üben, Karl.«
Er lachte. »Was ich meine, ist, du siehst erstaunlich gut aus für jemanden, der eine Auseinandersetzung mit Zachary Cain hatte. Ich gehe davon aus, dass davon der Kratzer auf deiner Backe stammt. Ich gehe außerdem davon aus, dass er nicht mehr im Rennen ist.«
»So in etwa.«
Marsten lehnte sich zurück und kreuzte die Knöchel, augenscheinlich sehr bekümmert über den Heimgang seines Partners. »Ich habe dich eine ganze Weile nicht gesehen. Wie lang ist es her, zwei Jahre? Zu lang. Schau mich nicht so an. Ich übe nicht an dir, und ich mache dich auch nicht an. Gott hat mir immerhin ein paar Gramm Hirn mitgegeben. Ich meine damit nur, ich habe die Unterhaltungen
Weitere Kostenlose Bücher