Die Nacht der Wölfin
können, seinen lebenslangen Gegner zu vernichten, während er betäubt und hilflos war? Und selbst wenn Daniel sich beherrschen konnte, wie stand es mit LeBlanc? Er hatte schon bewiesen, dass es ihn nicht im Geringsten interessierte, was Daniel wollte. Wenn Clay LeBlanc in Wut brachte, würde er ihn töten. Selbst wenn Clay LeBlanc nichts tat, würde der ihn vielleicht töten, einfach weil er da war. Während all diese Möglichkeiten mir durch den Kopf gingen, gaben meine schmerzenden Beine nach, und ich rutschte auf den Boden, die Hände immer noch um die Stäbe geschlossen.
»Du hast mich nicht gewarnt«, sagte ich.
Jeremy ging in die Hocke und legte eine Hand über meine. »Wovor habe ich dich nicht gewarnt, Liebes?«, fragte er leise.
»Ich habe nicht gedacht – ich hätte es wissen müssen.«
»Was wissen müssen?«
»Dass er auch in Gefahr war. Er hat auf mich aufgepasst. Aber ich habe nicht auf ihn aufgepasst.«
Ich ließ den Kopf auf die Knie fallen und spürte das erste Brennen von Tränen in den Augen.
Jeremy ließ mich die Nacht im Käfig verbringen. So sehr ich mir auch das Gegenteil einzureden versuchte, ich wusste, dass er es nicht aus Herzlosigkeit oder Gefühllosigkeit tat. Nach meinem Weinkrampf hätte man annehmen können, ich würde den Kampf aufgeben und Jeremys Willen gefügig hinnehmen. Zumindest hätte man das annehmen können, wenn man mich nicht sehr gut kannte. Jeremy kannte mich sehr gut. Als ich schluchzend auf dem Boden lag, hatte er den Arm durchs Gitter gestreckt, um mich zu trösten, aber er schloss die Tür nicht auf. Nachdem ich mich ausgeweint und die Tränen fortgewischt hatte, bekam ich einen Wutanfall. Ich zertrümmerte das Bett – es war der einzige Gegenstand in der Zelle, den man zertrümmern konnte. Ich trat gegen die Toilette, aber ohne Erfolg – außer möglicherweise dem, dass ich mir ein paar Zehen brach. Ich schleuderte das Abendessen auf den Boden. Ich verfluchte Jeremy mit aller Lungenkraft, die ich aufbrachte. Und als ich mit alldem fertig war, hätte ich mich eigentlich besser fühlen sollen, stimmt's? Ich fühlte mich nicht besser. Ich fühlte mich albern. Ich fühlte mich, als hätte ich einen hysterischen Anfall gehabt und mich lächerlich gemacht. Ich musste mich zusammennehmen und die Kontrolle zurückgewinnen. Wutanfälle würden Clay nicht weiterhelfen.
Dass ich bereit war, den Käfig zu verlassen, bedeutete natürlich nicht notwendigerweise, dass Jeremy bereit war, mich herauszulassen. Er ließ mich den ganzen Vormittag dort sitzen und kam in regelmäßigen Abständen vorbei, um sich zu überzeugen, dass ich meine Variation über Themen aus Der Exorzist nicht wieder aufgenommen hatte. Als er mit dem Mittagessen herunterkam, brachte er zugleich einen kleinen Packpapierumschlag mit, den er mir wortlos reichte, bevor er das Tablett zu mir hereinschob.
Der Umschlag enthielt ein Polaroidfoto von Clay. Er saß auf dem Boden, die Knie hochgezogen, die Füße zusammengebunden und die Arme auf dem Rücken. Seine Hände waren nicht zu sehen, aber nach seiner Position zu urteilen mussten sie ebenfalls gefesselt sein. Seine Augen waren halb geschlossen und so trüb von Medikamenten, dass sie eher grau als blau wirkten. Ich konnte nirgends auf dem Bild Stäbe erkennen, aber ich wusste, dass er in einem Käfig saß. Kein Werwolf würde Clay gefangen nehmen, ohne sicherzustellen, dass er sich nicht verwandeln und dann ausbrechen konnte. Ihn unter Kontrolle zu halten erforderte Drogen, Fesseln und/oder einen Käfig. Daniel würde fraglos alle drei verwenden. Er hatte sich schon früher mit Clay angelegt und würde eine unfreiwillige Zusatzrunde nicht riskieren wollen.
Ich sah wieder auf das Bild hinunter. Clays Arme und sein nackter Oberkörper waren mit Blutergüssen bedeckt, ein hässlicher Schnitt zog sich über seine linke Wange, seine Lippen waren geschwollen und aufgeplatzt, und er hatte ein blaues Auge. Aber trotz seines Zustands starrte er mit einem Ausdruck angeödeter Gereiztheit in die Kamera, wie ein Supermodel, das an diesem Tag schon von zu vielen Fotografen belästigt wurde. Aggression zu zeigen hätte Daniel nur in Fahrt gebracht. Clay wusste es besser. Ich griff noch einmal in den Umschlag und stellte fest, dass er leer war. Ich sah Jeremy an. Zum ersten Mal, seit er mich zurückgebracht hatte, sah ich ihn wirklich an. Er hatte violette Schatten unter den Augen, und die Haarfransen hingen ihm schlaff in die Stirn, als habe er seit Tagen weder
Weitere Kostenlose Bücher