Die Nacht der Wölfin
Junge. Wahrscheinlich ein Ausreißer.«
»Du meinst, dieser Mutt hat uns eine Leiche angeschleppt –«
»Schaff sie einfach erst mal fort, bevor die Leute sich in den Kopf setzen, noch mal zurückzukommen.«
Jeremy nahm meinen unverletzten Arm und führte mich weg, bevor Clay widersprechen konnte.
Auf dem Rückweg zum Haus redeten wir. Oder vielmehr, Jeremy redete, ich hörte zu. Die Situation schien sich mit jeder Stunde zu verschärfen. Erst wurden wir in der Stadt entdeckt. Dann fanden wir eine Leiche auf dem Grundstück. Dann gerieten wir in eine Auseinandersetzung mit den Einheimischen, zogen Aufmerksamkeit auf uns und machten uns wahrscheinlich auch noch verdächtig. Und das alles innerhalb von zwölf Stunden. Der Mutt musste sterben. Heute Nacht.
Als Clay zum Haus zurückkehrte, wollte er mit Jeremy und mir sprechen. Ich fand eine Entschuldigung, um mich schleunigst in mein Zimmer zurückzuziehen. Ich wusste genau, was er uns sagen wollte – er wollte sich dafür entschuldigen, dass er die Beherrschung verloren hatte, auf den Suchtrupp losgegangen war und uns in Schwierigkeiten gebracht hatte. Sollte Jeremy die Absolution aussprechen – das war sein Job, nicht meiner.
Nachdem Jeremy und Clay mit ihrer Unterredung fertig waren, rief Jeremy die anderen ins Arbeitszimmer, um ihnen zu erzählen, was geschehen war. Ich kannte die Geschichte schon, also kehrte ich währenddessen in mein Zimmer zurück und rief Philip an. Er sprach über eine Anzeigenkampagne, für die er den Auftrag zu erhalten hoffte, irgendwas mit Eigentumswohnungen am Seeufer. Ich muss gestehen, ich achtete kaum auf das, was er sagte. Stattdessen lauschte ich auf seine Stimme, schloss die Augen und stellte mir vor, ich sei dort, neben ihm, an einem Ort, an dem Leichen im Hof Anlass zu blankem Entsetzen gewesen wären und nicht einfach zu nüchternen Aufräumplänen. Ich versuchte zu denken, wie Philip denken würde, Mitgefühl und Kummer um den toten Jungen zu empfinden, um ein Leben, so voller Verheißung wie mein eigenes, das plötzlich zu Ende war.
Während Philip sprach, wanderten meine Gedanken zu meiner Nacht mit Clay. Ich brauchte mich nicht sonderlich anzustrengen, um mir vorzustellen, was Philip empfinden würde, wenn er davon wüsste. Was zum Teufel hatte ich mir eigentlich dabei gedacht? Ich hatte überhaupt nicht gedacht – das war das Problem dabei. Wenn ich vor ein paar Stunden noch kein schlechtes Gewissen gehabt hatte – jetzt hatte ich es, während ich Philip zuhörte und mir überlegte, wie er reagieren würde. Ich war ein Idiot. Ich hatte einen wunderbaren Mann, dem an mir lag, und ich bumste mit einem egomanischen, hinterhältigen Ungeheuer, das mich auf die übelste denkbare Art verraten hatte. Es war ein Fehler, den ich nicht wiederholen würde.
Nach einem verspäteten Mittagessen machte Jeremy einen Spaziergang mit Clay, um ihm seine Instruktionen für den Abend zu geben. Ich hatte meine schon bekommen. Clay und ich würden gemeinsam auf die Suche nach dem Mutt gehen. Ich würde ihn finden und an einen für uns ungefährlichen Ort locken, wo Clay ihn erledigen würde. Es war nicht gerade eine neue Vorgehensweise, aber so ungern ich es auch zugab, sie funktionierte.
Während die anderen das Geschirr spülten, machte ich mich davon. Ich wanderte durchs Haus und landete schließlich in Jeremys Atelier. Die Nachmittagssonne tanzte durch die Blätter der Kastanie vor dem Fenster und warf kreisende Schatten auf den Boden. Ich blätterte die Leinwände durch, die in Stößen an der Wand lehnten, Bilder von Wölfen, die miteinander spielten und sangen und schliefen, zusammengerollte Haufen von Gliedmaßen und unterschiedlich gefärbtem Pelz. Dann gab es noch ganz andere Gemälde, Bilder von Wölfen in der Stadt, die aus Gassen und Durchgängen heraus die Passanten beobachteten, sich von Kindern streicheln ließen, während die Mütter in die andere Richtung sahen. Wenn Jeremy sich einmal darauf einließ, eins seiner Bilder zu verkaufen, war es dieser zweite Stil, der ihm viel Geld einbrachte. Die Bilder waren rätselhaft und surreal, in Rot-, Grün- und Purpurtönen gehalten, die so dunkel waren, dass sie alle wie Schattierungen von Schwarz wirkten. An unerwarteten Stellen erweckte das Aufblitzen von grellem Gelb und Orange die Dunkelheit zum Leben, wie das Spiegelbild des Mondes in einer Pfütze. Ein gefährliches Motiv, aber Jeremy war sehr vorsichtig; er verkaufte die Bilder unter einem Künstlernamen und ließ
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