Die Nacht des Schierlings
immer. Ich hab es doch gesagt», rief er und puffte Wagner in die Schulter, «ich hab’s gerochen da oben. Es ist ganz einfach: Einer der wusste, was dann passiert, hat ihm Schierling verabreicht, und damit nur eins passiert, nämlich das Ende, ja, Exitus, hat er ihm vorher noch ein Schlückchen Laudanum gegönnt.»
«Keine ausreichende Dosis», fiel Leubold ein, Erleichterung in der Stimme, von einer möglichen Schuld befreit, «als der Körper gegen den Schierling revoltierte, als er würgte und erbrach, wurde er wach genug, aus dem Bett zu kriechen.»
«Wo er dann starb. Genau so, Gerrit, genau so. Erstaunlich eigentlich», gab Reuther sich selbst zu bedenken, «einer, der sich von Berufs wegen mit Drogen aller Art auskennen sollte, dürfte sich nicht auf diese Weise übertölpeln lassen.»
Schierling. Natürlich wusste Wagner wie fast jeder um die Giftigkeit der Wildpflanze. Auch dass sie oft verwechselt wurde. Aber das führte nicht immer zum Tod. Wie der alte Mann gesagt hatte: Es kam auf die Dosis an.
Aber jetzt hatte er nicht die wirklich hübsche, Hundspetersilie, Kümmel, Fenchel und besonders der Wilden Möhre zum Verwechseln ähnliche Pflanze vor Augen. Es war ein anderes Bild: Bruno Hofmann, wie er im Fleet gelegen hatte. Wie hatte der Nachtwächter gesagt? Es habe ausgesehen, als habe er versucht, die den Vorsetzen hinaufführende Leiter zu erreichen. Mit ausgestreckten Armen. Er hatte ihn nicht selbst gesehen. In den österreichischen Ländern, so hatte ihm jemand erzählt, durfte ein Leichnam erst abtransportiert werden, wenn die Hüter der Ordnung ihn angesehen hatten, er wünschte sich sehr, dass es hier genauso wäre. Es gab einen bedeutenden Unterschied – Bruno Hofmanns Verletzung, die Lage im Schlick, der Schlick tief in Mund und Ohren, bewies sicher – ziemlich sicher? –, dass ihn jemand in den Morast gedrückt hatte, bis er aufhörte zu atmen. Darüber musste er später nachdenken, in Ruhe. Irgendetwas fehlte in diesen Gedanken.
Als Wagner geraume Zeit später wieder in den Hof trat, war die Menge bis auf einige, die absolut gar nichts Besseres zu tun hatten, verschwunden. Von der Hufschmiede hörte man den Hammer auf Eisen schlagen, ein scharfes Zischen, wenn das glühende Eisen ins Wasser getaucht wurde, aus den Fenstern Stimmen, von irgendwoher sogar Gesang, vom Gänsemarkt die ihre Ware preisenden Ausrufer, die Straßenhändler, über das stets schadhafte Pflaster ratternde Wagenräder, Pferdewiehern, irgendwo hinten im Hof grunzten Schweine, obwohl das Halten dieser Stinker innerhalb der Stadtbefestigung schon lange verboten war. Kühler Wind wehte herbstliches Laub durch den Hof, zugig wie in einem Korridor, auf dem Deckel einer Wassertonne balancierte leichtsinnig eine junge Katze.
Die Welt drehte sich weiter. Was sonst? Für die Welt war ein Leben ein Stäubchen. Immerhin, dachte Wagner, hinterlässt Drifting weder Frau noch Kind. Er dachte an Karla und das Leben, das in ihr wuchs, und als er auf den Gänsemarkt trat, achtete er sorgsamer als sonst darauf, ob nicht gerade eine Kutsche oder ein durchgehendes Ross herangerast kam. Er war nie leichtfertig mit seinem Leben gewesen, aber jetzt trug er nicht mehr nur für sich Verantwortung.
Er trat beiseite, um einer Droschke Platz zu machen, die der Kutscher sich bemühte, unbeschädigt in den engen Durchgang zum Opernhof zu lenken. Ein Kopf beugte sich heraus, Wagner erkennte Hufland, den Wundarzt des Stadtphysikus. Wie vornehm, dachte Wagner mit einem säuerlichen Anflug von Neid. Für gewöhnlich wurden die Leichname mit einem Karren zum Eimbeck’schen Haus gebracht. Besonders, wenn es sich wie allermeistens um einen unbedeutenden Mann wie Drifting handelte. Aufseufzend – Wagner hatte längst Hunger – drehte er um und folgte der Droschke in den Hof. Hufland war nicht dumm, gut möglich, er sah dem Leichnam schon äußerlich etwas an, das Wagner nicht aufgefallen war und ihm half, diese unselige Geschichte rasch zu einem Ende zu bringen.
«E s wird nu’ aber Zeit», rief Elwa von der Küche, «das Tragantzeug ist so weit.» Sie beugte sich über die Schüssel und schnupperte mit gekrauster Nase. Das Rosenwasser, in dem sie das Pulver über Nacht hatte quellen lassen, roch ein bisschen schwach. Sie erinnerte sich, wie Ludwig vor einigen Wochen gesagt hatte, der Meister wolle diesmal von dem billigeren kaufen. Offenbar hatte er es getan. Das war nicht gut, aber das war auch nicht ihre Sache, sie war nur die Magd.
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