Die Nacht des Ta-Urt (German Edition)
Realität zu halten, was sie von nun an erleben würden. Die Unterschiede verwischten, und wenn sie zusammenhielten, waren es wenigstens immer noch dieselben Irrtümer, denen sie unterlagen.
***
Als Tanner die Meldung erhielt, dass aus den Katakomben, die seine Männer eben unter dem Keller des Archivs entdeckt hatten, eine vollkommen verwirrte Frau mit Verbrennungen zweiten Grades am ganzen Körper aufgetaucht war, beschloss er hinein zu gehen und das Sektennest auszuheben.
Aber zuerst wollte er sich die Frau ansehen.
Von Verbrennungen konnte er allerdings nichts entdecken, vielmehr sah es für ihn so aus, als habe jemand die Frau am ganzen Körper mit einer Käsereibe bearbeitet. Die obersten Schichten ihrer Haut waren zum größten Teil wie vom Fleisch abgerissen. Ihr ganzer Körper, soweit er unter der zerfetzten Kleidung zum Vorschein kam, war eine einzige blutende Wunde.
Sie redete wirres Zeug . Gut, das kannte er von diesen Sektenfreaks. Irgend etwas von Nebel und Fischen und dass es nie zu Ende sein würde.
Nichts, was man mit einer Familienpackung Valium nicht wieder hinkriegen würde. Der Arzt würde sich um sie kümmern.
Seine Hauptsorge galt den anderen Spinnern, die sich offensichtlich irgendwo im Gebäude herumtrieben um faulen Zauber mit der Haut anderer Leute zu betreiben.
Sie warteten, bis einer seiner Männer Nachtsichtgeräte für alle geholt hatte, dann ging es hinein.
Umrahmt von sieben harten Jungs trabte der Kommissar durch den Gang einem Schicksal entgegen, dass nicht mit seinem Auftauchen gerechnet hatte.
***
Ruth Leuberich hatte sich umgedreht und die Gruppe verlassen. Ganz allein war sie den Gang wieder hinaufgegangen und langsam war der Nebel vor ihr wieder zurückgewichen. Er reichte ihr nur noch bis knapp unter den Bauchnabel, als sie plötzlich einen Stich in der rechten Wade spürte.
Etwas hatte sie gebissen.
Diese verdammte Halluzination hatte sie gebissen.
Sie blieb stehen und hob ihr Bein aus dem Nebel. An der geröteten Wade zeigte sich eine etwa briefmarkengroße Wunde. Sie war nicht sehr tief, nur ein paar winzige Perlen Blut bedeckten die Stelle. Es war nur etwas Haut weg.
Sie wollte gerade das Bein wieder hinstellen, als sie an der Ferse ihres linken Fußes einen weiteren Biss spürte.
Sie stürzte fast, als sich der Schmerz durch ihren Fuß bohrte.
Für einen Augenblick musste sie in die Hocke gehen und sich mit der rechten Hand am Boden abstützen, dabei geriet sie mit dem Kopf in den Nebel.
Sofort biss sie etwas in ihr Handgelenk.
Durch die Nebelschwaden hindurch sah sie gerade noch einen dieser unheimlichen Fische wegschwimmen.
Sie hätte schwören können, dass er ein Gesicht gehabt hatte.
Sie stand auf und begann zu rennen. Sie floh durch den Gang, achtete nicht darauf, dass sie immer wieder mit den Schultern gegen die Wände stieß, mehr stolperte als rannte.
Wieder spürte sie einen Biss, diesmal in ihrem Rücken.
Sie fiel gegen die Wand des Ganges und wieder biss etwas zu, in den Oberschenkel. Sie schrie vor Schmerz und Panik auf, versuchte sich wieder hochzurappeln, spürte plötzlich mehrere Bisse gleichzeitig an verschiedenen Stellen ihres Körpers. Ihre Beine gaben nach. Sie fiel auf Hände und Knie und geriet wieder mit dem Kopf in den Nebel.
Um sie herum flogen ein halbes Dutzend dieser Fische mit menschlichen Gesichtern durch den Nebel. Sie konnte erkennen, dass die Gesichter keine Lippen hatten, scharfe, nackte Zähne ragten aus zungenlosen Mäulern heraus. Die Fische schossen hin und her und bissen sich in ihren Armen, ihren Beinen, ihrem Körper fest und rissen winzige Stücke Haut aus ihr heraus.
Direkt vor ihrem Gesicht hielt einer der Fische für den Bruchteil einer Sekunde und blickte sie an, bevor er ihr ein Stück Haut von der Nase biss. Sie spürte, dass der Fisch ihr in diesem Moment mit seinen Menschenaugen in das tiefste Innere ihrer Seele blickte.
Und was sie in diesem einen kurzen Moment für immer in den Wahnsinn trieb, war, dass sie hatte sehen können, was der Fisch sah.
Sie sah ihre Seele wie ein Stück ranziges Fett in einem Kessel aus Höllenfeuer schmoren, sie sah, wie ihr verfaultes Inneres in einem Schlund verschwand, der tiefer und schwärzer war als all die Schuld, die sie in ihrem Leben auf sich geladen hatte, sie sah, dass es für sie noch nicht zu Ende war, dass die Fische von nun an ihre Begleiter waren auf einer Reise durch die Unendlichkeit der Hölle, dass es für sie nie zu Ende
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