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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Caen geworfen. Es ist ein Selbstmord, das hat sie damit sagen wollen.«
    »Wie haben Sie es denn erfahren?«, fragte Adamsberg die Mutter.
    »Beim Einkaufen. Der Bahnhofsvorsteher traf um 7 Uhr 45 ein und sah die Polizei und den Rettungswagen. Er hat einen der Krankenpfleger gesprochen.«
    »Um 7 Uhr 45? Wo der erste Zug nicht vor elf Uhr dort hält?«
    »Er hatte einen Anruf vom Lokführer des Expresszuges erhalten. Dem war so gewesen, als hätte er auf dem Gleis etwas gesehen, also ist der Bahnhofsvorsteher hin, um nachzusehen. Wissen Sie, wer sich umgebracht hat?«
    »Und Ihnen, hat man es Ihnen gesagt?«
    »Nein«, sagte Hippo. »Vielleicht die Marguerite Vanout.«
    »Warum die?«, fragte Martin.
    »Du weißt doch, was man in Cérenay sagt. Eis tkcit thcin rhem githcir.«
    »Sie tickt nicht mehr richtig«, erklärte Lina.
    »Ach ja? Wieso?«, fragte Antonin, mit der ehrlich erstaunten Miene eines Menschen, der sich in keiner Weise bewusst ist, dass er selber nicht ganz richtig tickt.
    »Seitdem ihr Mann sie verlassen hat. Sie schreit herum, zerreißt ihre Kleider, zerkratzt die Häuserwände, schreibt was drauf. Auf die Wände.«
    »Was schreibt sie denn?«
    »Wiederliche Schweine«
, erklärte Hippo. »Mit
ie
. Und manchmal auch im Singular. Sie schreibt es überall im Dorf an, die Leute in Cérenay haben allmählich die Nase voll davon. Jeden Tag muss der Bürgermeister all die
Wiederlichen Schweine
beseitigen lassen, die sie in der Nacht verewigt hat. Und gleichzeitig, da sie ja einen Haufen Geld hat, versteckt sie hier und da einen großen Schein, unter einem Stein, in einem Baum, und am nächsten Morgen können die Leute es sich nicht verkneifen, das verstreute Geld zu suchen, wie in einem Versteckspiel. Keiner kommt mehr pünktlich zur Arbeit. Sie ganz allein hält den Ort in Aufregung. Und es ist ja auch nicht verboten, Geld zu verstecken.«
    »Es ist sogar ziemlich komisch«, meinte Martin.
    »Ziemlich«, bestätigte Hippo.
    »Es ist gar nicht komisch«, wandte die Mutter tadelnd ein. »Sie ist eine arme Frau, die den Verstand verloren hat, und dabei leidet sie.«
    »Ja, aber komisch ist es trotzdem«, sagte Hippo und beugte sich zu ihr hinab, um einen Kuss auf ihre Wange zu drücken.
    Das verwandelte die Mutter radikal, als sähe sie plötzlich ein, dass jeder Tadel zwecklos und ungerecht war. Sie tätschelte ihrem großen Sohn die Hand und zog sich wieder in ihren Lehnstuhl in der Ecke zurück, von wo aus sie an dem Gespräch vermutlich nicht mehr teilnehmen würde. Es war wie ein dunkler, stiller Abgang, als wenn ein Schauspieler in den Hintergrund der Bühne verschwindet und man ihn doch noch sehen kann.
    »Wir werden ein paar Blumen zum Begräbnis schicken«, sagte Lina. »Immerhin kennen wir ihre Tante gut.«
    »Soll ich im Wald welche pflücken?«, schlug Martin vor.
    »Das macht man nicht, zu einem Begräbnis selbstgepflückte Blumen zu schicken.«
    »Dazu braucht man gekaufte Blumen«, meinte auch Antonin. »Können wir Lilien kaufen?«
    »Nicht doch, Lilien nimmt man für eine Hochzeit.«
    »Und wir haben auch gar kein Geld für Lilien«, sagte Lina.
    »Vielleicht Anemonen?«, schlug Hippo vor. »Eid dnis thcin reuet, Nenomena.«
    »Es ist nicht die Jahreszeit«, erwiderte Lina.
    Adamsberg ließ sie noch einen Moment die Wahl der Blumen für Marguerite erörtern, und diese Unterhaltung, es sei denn, sie wäre von höheren Mächten inspiriert, bewies ihm mehr als alles andere, dass kein Vendermot mit dem Vorfall in Cérenay etwas zu tun hatte. Wenn die Vendermots auch zweifellos alle höher inspiriert waren.
    »Aber Marguerite ist gar nicht tot«, sagte Adamsberg schließlich.
    »Ach? Also dann keine Blumen mehr«, erklärte Hippo entschieden.
    »Wer war es dann?«, fragte Martin.
    »Es ist überhaupt niemand ums Leben gekommen. Der Mann lag zwischen den Schienen, und der Zug ist über ihn hinweggerauscht, ohne ihn zu berühren.«
    »Bravo«, sagte Antonin. »Das nenne ich eine künstlerische Erfahrung.«
    Gleichzeitig gab der junge Mann seiner Schwester ein Stück Zucker, und Lina, die sofort verstand, brach es ihm in zwei Teile. Eine Geste, die einen kräftigen Fingerdruck erforderte, den Antonin sich nicht zutraute. Adamsberg wandte den Blick ab. Diese Zuckerattacken in jeder Situation ließen ihn allmählich schaudern, als wäre er von einem vielgestaltigen Angreifer umzingelt, dem die Zuckerstückchen als Wurfgeschosse und Burgmauern dienten.
    »Wenn er sich wirklich umbringen wollte«,

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