Die Nacht des Zorns - Roman
Adamsberg bewusst ein anderes Buch gewählt. Er las ein technisches Kapitel über das Abfohlen der Stute, und Léo tänzelte in der gleichen Weise. Ebenso die Krankenschwester, die diese Lesestunden nie versäumte und die der Wechsel des Themas nicht zu erschüttern schien. Adamsberg begann sich über diesen Zustand von fast seligem Frieden zu beunruhigen, er hatte Léo ganz anders kennengelernt, gesprächig, sehr geradeheraus, ein bisschen grantig und sehr burschikos im Umgang. Dr. Merlan, der einen unbeirrbaren Glauben an seinen Kollegen Hellebaud bewahrte, während der Kommissar ihn zu verlieren begann, versicherte ihm, dass der Heilungsprozess genau in der Weise verlief, die der Osteopath beschrieben hatte, den er tags zuvor in seinem »Haus in Fleury« telefonisch hatte konsultieren dürfen. Léone war absolut in der Lage, zu sprechen und zu denken, doch ihr Unterbewusstsein hatte diese Funktionen abgeschaltet, mit Hilfe des Arztes, der sie in ein heilsames Refugium eingeschlossen hatte, und es würdenoch einige Tage brauchen, bevor das Schutzgitter sich heben würde.
»Es ist erst sieben Tage her«, sagte Merlan. »Lassen Sie ihr die Zeit.«
»Sie haben ihr nichts über Mortembot gesagt?«
»Kein Wort. Wir befolgen die Weisungen. Haben Sie die gestrige Zeitung gelesen?«
»Den Artikel über die Bullen aus Paris, die nichts begreifen?«
»So in etwa.«
»Sie haben recht. Zwei Morde seit meiner Ankunft.«
»Aber auch zwei, die verhindert wurden. Der von Léone und der des Commandant.«
»Verhindern heißt nicht kämpfen, Doktor.«
Dr. Merlan breitete mitfühlend die Arme aus.
»Die Ärzte können nicht diagnostizieren ohne Symptome, und die Bullen können es nicht ohne Indizien. Ihr Mörder ist ein asymptomatisches Wesen. Er hinterlässt nicht eine Spur, er geht vorüber wie ein Gespenst. Nicht normal, Kommissar, nicht normal. Valleray ist auch dieser Meinung.«
»Der Vater oder der Sohn?«
»Der Vater natürlich. Denis mokiert sich über alles, was hier vorgeht.«
»Kennen Sie ihn gut?«
»Nun ja, so einigermaßen. In der Stadt sieht man ihn nur selten. Aber zwei Mal im Jahr gibt der Graf ein Abendessen für die Honoratioren, zu denen ich gehöre. Nicht sehr amüsant, aber unumgänglich. Die Speisen allerdings sind exzellent. Haben Sie den Vicomte im Visier?«
»Nein.«
»Da tun Sie auch gut dran. Er hätte niemals jemanden zu töten versucht, und wissen Sie, warum? Weil er sich dafür hätte entscheiden müssen, und dazu ist er nicht fähig. Er hat sich ja nicht mal selbst seine Frau ausgesucht, stellen Sie sich mal vor. Jedenfalls sagt man das.«
»Wir reden noch mal darüber, Doktor, sobald Sie einen Moment Zeit für mich haben.«
Hippolyte hängte vor seinem Haus Wäsche auf, über eine blaue Leine, die zwischen zwei Apfelbäumen gespannt war. Adamsberg beobachtete ihn, wie er ein Kleid seiner Schwester ausschüttelte, damit die Knitterfalten herausgingen, bevor er es sorgfältig anklammerte. Es kam natürlich nicht in Frage, dass er ihm ohne alle Umschweife seine neue Verwandtschaft mitteilte. Das konnte im Augenblick nur gewalttätige und unberechenbare Wirkungen zeitigen, und der Mörder war zu flüchtig und zu beweglich, als dass man dieser unkontrollierbaren Situation noch weitere Überraschungen hinzufügen durfte. Hippo unterbrach sich, als er Adamsberg näher kommen sah, wobei er sich unwillkürlich die Kante seiner rechten Hand rieb.
»Netug gat, Kommissar.«
»Guten Tag«, erwiderte Adamsberg. »Haben Sie was an der Hand?«
»Ach, nichts, es ist der fehlende Finger. Immer wenn sich Regen ankündigt, habe ich da ein heftiges Stechen. Es bewölkt sich im Westen.«
»Es bewölkt sich schon seit Tagen im Westen.«
»Aber diesmal ist es sicher«, sagte Hippo und nahm seine Arbeit wieder auf. »Es wird regnen, und nicht zu knapp. Es sticht mich ungewöhnlich stark.«
Adamsberg strich sich mit der Hand übers Gesicht, zögerte. Émeri hätte jetzt unfehlbar vermutet, dass nicht der fehlende Finger diesen Schmerz hervorrief, sondern der heftige Schlag, den er Danglard mit der Handkante versetzt hatte.
»Und an der linken Hand sticht es Sie nicht?«
»Mal ist es die eine Hand, mal die andere, manchmal auch beide. Es ist nicht mathematisch.«
Ungewöhnliche Intelligenz, lauernder Verstand, schroffeWesensart. Wenn nicht Adamsberg die Ermittlung führen würde, hätte Émeri Hippo schon vor einer Weile eingelocht. Hippo setzte die Vision seiner Schwester in die Wirklichkeit um,
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