Die Nacht des Zorns - Roman
Einen an den Grafen von Valleray, einen weiteren an Danglard und den letzten an Dr. Merlan. In zweieinhalb Stunden würde er sich auf den Weg machen.
Er schlüpfte aus dem Zimmer und in den Keller. Wenn er dort auf ein Weinfass stieg, reichte er an eine staubige kleine Luke heran, die einzige Öffnung, die auf ein Stück Kuhweide hinausging. Er hatte Zeit, er würde warten.
Als er beim Angelusläuten ungesehen das Haus der Vendermots erreichte, war er zufrieden. Nicht weniger als drei Kühe hatten sich bewegt. Und sogar mehrere Meter weit, ohne die Nase vom Boden zu erheben. Was ihm als ein ausgezeichnetes Omen für die Zukunft von Ordebec erschien.
51
»Habe nichts einkaufen können, alle Läden waren geschlossen«, sagte Veyrenc, indem er einen Beutel mit Vorräten auf dem Tisch ausschüttete. »Wir mussten Froissys Schrank plündern und müssen ihr das so bald wie möglich ersetzen.«
Retancourt saß mit dem Rücken an den erloschenen Kamin gelehnt, ihr blonder Haarschopf ragte um einiges über die steinerne Ummantelung hinaus. Adamsberg fragte sich, was er ihr in diesem Haus zum Schlafen anbieten konnte, wo alle Betten antik waren, das heißt viel zu kurz für ihre Körpermaße. Sie sah Veyrenc und Adamsberg zu, wie sie mit Seitlingen gefüllte Hasenpastete auf ein paar Sandwichs strichen, und ihr Gesichtsausdruck war nahezu heiter. Man wusste nie, warum Retancourt den einen Tag eine strenge, den anderen eine liebenswürdige Miene aufsetzte, man fragte auch nicht danach. Und selbst wenn sie lächelte, hatte die große Frau in ihrem Wesen immer etwas Raues und leicht Imponierendes, das einen davon abhielt, ihr vertrauliche Mitteilungen zu machen oder leichtfertige Fragen zu stellen. Ebenso wenig, wie man einem tausendjährigen Mammutbaum einen freundschaftlichen – im Grunde also despektierlichen – Klaps auf den Stamm gegeben hätte. Welche Miene auch immer sie hatte, Retancourt nötigte einem Ehrerbietung ab, manchmal sogar Ergebenheit.
Nach der dürftigen Abendmahlzeit – aber Froissys Pastete war unstreitig köstlich – zeichnete Adamsberg ihnen eine Lageskizze des Ortes auf. Ab Léos Herberge den Pfad in südöstlicher Richtung einschlagen, dann querfeldein abkürzen,auf den Weg von La Bessionnière einbiegen, einen Trampelpfad, und von dort zu dem alten Brunnen gelangen.
»Ein kleiner Fußmarsch von sechs Kilometern. Was Besseres als diesen Brunnen habe ich nicht gefunden. Der Gänsebrunnen. Ich habe ihn entdeckt, als ich mal an der Touques entlanggelaufen bin.«
»Die Touques, was ist das?«, fragte Retancourt, immer auf Genauigkeit bedacht.
»Der Fluss hier in der Gegend. Der Brunnen liegt schon auf dem Gebiet der Nachbargemeinde, er wird seit vierzig Jahren nicht mehr benutzt, der Schacht ist etwa zwölf Meter tief. Es ist leicht und verführt gerade dazu, einen Menschen hineinzustoßen.«
»Wenn derjenige sich weit genug über den Brunnenrand beugt«, meinte Veyrenc.
»Womit ich rechne. Denn der Mörder hat dieses Manöver schon einmal durchgeführt, als er Denis aus dem Fenster stieß. Er weiß, wie man’s macht.«
»Womit du sagen willst, dass Denis sich nicht das Leben genommen hat«, stellte Veyrenc fest.
»Man hat ihn umgebracht. Er ist das vierte Opfer.«
»Und nicht das letzte.«
»Genau.«
Adamsberg legte den Stift hin und äußerte seine letzten Überlegungen – so dies denn das richtige Wort war. Retancourt rümpfte mehrmals die Nase, wie immer erregte seine Methode, ans Ziel zu gelangen, ihr Missfallen. Andererseits hatte er dieses Ziel erreicht, das musste sie zugeben.
»Was erklären würde, warum er nicht die geringste Spur hinterlassen hat«, sagte Veyrenc, den diese neuen Elemente nachdenklich stimmten.
Retancourt dagegen kam noch einmal auf die praktische Seite der Aktion zurück.
»Ist er breit, der Brunnenrand?«
»Nein, dreißig Zentimeter ungefähr. Und vor allem ist er niedrig.«
»Dann könnte es klappen«, meinte Retancourt zustimmend. »Und der Durchmesser des Brunnens?«
»Ausreichend.«
»Wie gehen wir vor?«
»Fünfundzwanzig Meter von dort entfernt steht ein altes landwirtschaftliches Gebäude. Eine von zwei großen, morschen Toren verschlossene Lagerhalle. Dort stehen wir, näher dran gibt es kein Versteck mehr. Doch Achtung, Hippo ist ein kräftiger Kerl. Es besteht schon ein großes Risiko.«
»Gefährlich«, sagte Veyrenc. »Wir riskieren ein Menschenleben.«
»Wir haben keine Wahl, es gibt keinerlei Beweis, außer ein paar armseligen
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