Die Nacht des Zorns - Roman
vorübergeht wie ein Gespenst. Oder wie ein Bulle. Denn wer könnte besser als ein Bulle alle Spuren löschen? Du übernahmst den technischen Teil, du warst es, der mir die Resultate brachte. Bilanz: Wir hatten nichts, nicht eine Fußspur, nicht ein Indiz.«
»Es gibt kein Indiz, Adamsberg.«
»Ich vertraue darauf, dass du alles beseitigt hast. Aber da ist noch der Zucker.«
Blériot parkte sein Auto beim Taubenschlag und kam mit einer Taschenlampe angerannt, seinen dicken Bauch vor sich herschiebend. Er sah seinen am Boden gefesselten Capitaine, warf einen entgeisterten und empörten Blick auf Adamsberg, hielt sich aber zurück. Er wusste nicht, ob er eingreifen, ob er etwas sagen sollte, er wusste nicht mehr, wo Freund, wo Feind war.
»Brigadier, befreien Sie mich von diesen Knallköpfen«, befahl Émeri. »Hippo hat mich hergebeten unter dem Vorwand, im Brunnen liege eine Leiche, er hat mich bedroht, und ich habe mich verteidigt.«
»Und versucht, mich reinzustoßen«, sagte Hippo.
»Ich hatte keine Waffe«, sagte Émeri. »Ich hätte hinterher Leute zusammengetrommelt, damit man dich rausholt. Wenn auch Dämonen von deinem Schlage genau auf diese Weise krepieren sollten. Damit sie in die Tiefe der Erde zurückfahren.«
Blériot sah abwechselnd Émeri und Adamsberg an, immer noch unfähig, sich für eine Seite zu entscheiden.
»Brigadier«, sagte Adamsberg und sah auf, »Sie süßenIhren Kaffee nicht. So dass die Zuckervorräte, die Sie bei sich trugen, für den Capitaine waren, stimmt’s, und nicht für Sie?«
»Ich habe immer welchen bei mir«, sagte Blériot knapp.
»Um ihm welchen zu geben, wenn er eine Krise hat? Wenn ihm die Beine den Dienst versagen, wenn er anfängt zu schwitzen und zu zittern?«
»Darüber darf man nicht reden.«
»Warum sind Sie es, der die Vorräte mit sich herumschleppt? Weil es seine Taschen ausbeult? Weil er sich schämt?«
»Beides, Kommissar. Darüber darf man nicht reden.«
»Müssen diese Zuckerstückchen eingewickelt sein?«
»Aus Gründen der Hygiene, Kommissar. Manchmal habe ich sie wochenlang in meinen Taschen, ohne dass er eins nimmt.«
»Ihre Zuckerpapierchen, Blériot, sind die gleichen wie die, die ich auf dem Weg von Bonneval aufgelesen habe, vor dem umgefallenen Baumstamm. Dort hat Émeri eine Krise gehabt. Dort hat er sich hingesetzt und sechs Stück Zucker gegessen, dort hat er die Papierchen zurückgelassen, dort hat Léo sie gefunden. Nach dem Mord an Herbier. Denn zehn Tage vorher lagen sie noch nicht da. Léo weiß alles, Léo assoziiert die Dinge, sie sieht die Schmetterlingsflügel, Léo weiß, dass Émeri manchmal mehrere Stückchen Zucker hintereinander essen muss, um wieder ins Lot zu kommen. Was tat Émeri auf dem Weg von Bonneval? Das ist die Frage, die sie ihm gestellt hat. Dann ist er zu ihr gekommen und hat ihr geantwortet, das heißt, er hat sie niedergeschlagen.«
»Unmöglich. Der Capitaine hat nie Zucker bei sich. Er fragt immer mich danach.«
»Aber an dem Abend, Blériot, ging er allein zur Kapelle, da hat er welchen mitgenommen. Er kennt sein Problem. Eine starke Erregung, ein plötzlicher Energieverbrauch, die können eine hypoglykämische Krise auslösen. Er konnte janicht riskieren, ohnmächtig zu werden, nachdem er Herbier ermordet hatte. Wie reißt er das Papier auf? An den Seiten? In der Mitte? Und dann? Rollt er es zu einer Kugel zusammen? Zerknittert er es? Lässt er es so, wie es ist? Faltet er es? Wir haben alle unsere Macken mit solchen Papieren. Sie zum Beispiel machen ein sehr festes kleines Kügelchen daraus, das Sie in Ihre vordere Jackentasche stecken.«
»Um es nicht auf die Erde zu werfen.«
»Und er?«
»Er reißt es in der Mitte auf und öffnet es zu drei Vierteln.«
»Und danach?«
»Er lässt es so.«
»Ganz genau, Blériot. Und bestimmt wusste Léo das. Ich verlange nicht von Ihnen, dass Sie Ihren Capitaine verhaften. Ich und Veyrenc werden ihn jetzt auf die Rückbank des Autos befördern. Sie steigen vorn ein. Alles, was ich von Ihnen erwarte, ist, dass Sie uns zur Gendarmerie fahren.«
53
Adamsberg hatte, sobald sie im Vernehmungsraum angekommen waren, Émeri die Handschellen abgenommen und die Stricke gelöst. Er hatte Commandant Bourlant in Lisieux benachrichtigt. Blériot war zu Léos Keller geschickt worden, um die Zuckerpapiere zu holen.
»Nicht sehr klug, ihm die Hände frei zu lassen«, bemerkte Retancourt im beiläufigsten Ton der Welt. »Denken Sie an die Flucht von Mo. Mir nichts, dir
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