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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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zurück. Im Bedarfsfall gleicher Ort, gleiche Zeit.
Er war nicht in der Lage, das Wort »Bedarfsfall« korrekt einzugeben, und ersetzte es durch »nötig«.
Falls nötig, gleicher Ort, gleiche Zeit.
Dann sandte er Lieutenant Veyrenc eine Nachricht:
Komm 20 Uhr 30 zu Léos Herberge. Bring unbedingt Retancourt mit. Achtet darauf, dass niemand euch sieht, kommt über den Waldweg. Bring eine Seilwinde und etwas zu essen mit.

50
    Adamsberg bemühte sich, unauffällig wieder nach Ordebec hineinzufahren, es war zwei Uhr nachmittags, um diese Zeit war an einem Sonntag kein Mensch auf der Straße. Er nahm den Waldweg, um zu Léos Haus zu gelangen, öffnete die Tür zu dem Zimmer, das er inzwischen als seines betrachtete. Sich in die Kuhle der Wollmatratze zu drücken erschien ihm erst mal als das Wichtigste. Er stellte den fügsamen Hellebaud auf die Fensterbrüstung und warf sich aufs Bett. Er schlief nicht ein, er hörte auf das Gurren der Taube, die glücklich zu sein schien, ihren alten Standort wiederzufinden. Und ließ seine Gedanken sich verweben
,
ohne mehr zu versuchen, sie voneinander zu trennen. Er hatte vor kurzem ein Foto gesehen, das ihn beeindruckt hatte, denn es war ein treffendes Bild für die Vorstellung, die er sich von seinem Gehirn machte. Es zeigte den auf einem großen Schiffsdeck ausgeschütteten Inhalt der Fangnetze, eine Masse, die sich über die Köpfe der Seeleute hinaus türmte, bunt zusammengewürfelt, nicht identifizierbar, in der sich das Silber der Fische, das Braun der Algen, das Grau der Krustentiere – des Meeres, nicht des Landes, wie diese verfluchte Kellerassel –, das Blau der Hummer, das Weiß der Muscheln unentwirrbar vermischten, ohne dass man die Abgrenzungen der einzelnen Elemente erkennen konnte. Das war’s, womit er sich ständig herumschlug, eine ineinander verknäulte, wirre Masse, wogend und vielgestaltig, immer im Begriff, sich zu verändern oder in sich zusammenzusinken, ja ins Meer zurückzutauchen. Die Seeleute sortierten diese Masse, indem sie zu kleine Tiere, Algenbündel, alleungeeignete Materie ins Wasser zurückwarfen und die verwendbaren und bekannten Arten beiseitelegten. Er selber, so schien ihm, ging umgekehrt vor, er warf die vernünftigen Sachen weg und machte sich danach an die Untersuchung der unbrauchbaren Teile seines persönlichen Haufens.
     
    Er ging noch einmal an den Ausgangspunkt zurück, angefangen bei Blériot, wie er die Hand vor seinem Kaffee hob, und ließ Bilder und Geräusche von Ordebec an sich vorüberziehen: das schöne, zerfressene Gesicht des Seigneur Hellequin, Léo, wie sie im Wald auf ihn wartete, die Empire-Bonbonniere auf Émeris Tafel, Hippo, der das nasse Kleid seiner Schwester ausschüttelte, die Stute, deren Nüstern er gestreichelt hatte, Mo und seine Buntstifte, die Salbe auf Antonins tönernen Knochen, das Blut auf der Madonna von Glayeux, Veyrenc, der auf dem Bahnsteig zusammengebrochen war, die Kühe und die Kellerassel, die Elektrizitätskugeln, die Schlacht von Preußisch Eylau, die Émeri ihm schließlich drei Mal erzählt hatte, der Stock des Grafen, wie er auf das alte Parkett schlug, das Zirpen der Grillen bei den Vendermots, die Wildschweinrotte auf dem Weg von Bonneval. Er drehte sich auf den Rücken, legte die Hände unter den Nacken, fixierte die Deckenbalken. Dieser Zucker. Dieser Zucker hatte ihn all die Tage verfolgt, er hatte eine derartige Gereiztheit in ihm ausgelöst, dass er ihn am Ende schon in seinem Kaffee nicht mehr sehen konnte.
     
    Zwei Stunden später stand Adamsberg wieder auf, seine Wangen glühten. Er brauchte nur einen Menschen zu sehen, Hippolyte. Er würde bis 19 Uhr warten, der Stunde, zu der alle Bewohner von Ordebec zum Aperitif in Küchen und Cafés zusammenhockten. Indem er den Ort von außen umging, könnte er zum Haus der Vendermots gelangen, ohne Gefahr zu laufen, dass ihm jemand begegnete. Auch die Vendermots würden gerade beim Aperitif sein, vielleichtwürden sie diesen grauenhaften Portwein austrinken, den sie zu seinem Empfang gekauft hatten. Er musste Hippo schonend zu seiner Sicht der Dinge hinführen, ihn bewegen, dass er sich genau an den Ort begab, wo er ihn haben wollte, ihn so steuern, dass er sich keine Eigenmächtigkeit erlaubte.
Wir sind nett.
Eine wahrlich bündige Definition für ein an den Fingern amputiertes Kind, das seine Schulkameraden jahrelang terrorisiert hatte.
Wir sind nett.
Er sah auf seine Uhren. Er hatte zur Bestätigung noch drei Anrufe zu erledigen.

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