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Die Nacht des Zorns - Roman

Die Nacht des Zorns - Roman

Titel: Die Nacht des Zorns - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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schnell wieder darüberzog.
    »Hat er Sie geschlagen?«
    »Und Ihrer, hat der Sie geschlagen?«
    »Nein. Er war Schuhmacher.«
    »Was hat das damit zu tun.«
    »Stimmt.«
    »Mich hat er nie angerührt. Aber meine Brüder hat er zu Brei geschlagen. Als Antonin noch ein Baby war, hat er ihn an einem Fuß gepackt und die Treppe runtergeschmissen. Einfach so. Vierzehn Brüche. Er hat ein ganzes Jahr in Gips gelegen. Und Martin, der aß nicht gern. Also hat er sein Essen heimlich in den Hohlraum des metallenen Tischbeins gestopft. Eines Tages hat mein Vater das bemerkt, da hat er ihn das ganze Zeug mit einem Angelhaken aus dem Tischbein rausholen lassen und ihn gezwungen, das alles zu essen. Es war natürlich längst verfault. Solche Sachen eben.«
    »Und den Ältesten? Hippo?«
    »Noch schlimmer.«
    Lina trat ihre Zigarette auf dem Boden aus und stieß die Kippe in den Rinnstein. Adamsberg zog sein Mobiltelefon heraus – das zweite, konspirative –, das in seiner Tasche vibrierte.
    Bin im Laufe des Abends bei dir, sag mir deine Adresse. LVB.
    Veyrenc. Veyrenc, der ihm seinen Gugelhupf vor der Nase aufessen würde, der ihm das Stück wegschnappen würde, Veyrenc mit seinem samtweichen Gesicht und seiner verführischen Mädchenlippe.
    Nicht nötig, alles ist in Ordnung,
antwortete Adamsberg.
Es ist durchaus nicht alles in Ordnung. Gib mir die Adresse.
    Anruf reicht nicht?
    Gib mir die Adresse, verdammt.
    Adamsberg kam an den Tisch zurück und tippte widerstrebend die Adresse von Léos Herberge ein, seine Stimmung war für den Augenblick verdüstert. Wolken, die von Westen her aufzogen, heute Abend würde es regnen.
    »Gibt es Probleme?«
    »Ein Kollege, der hierher unterwegs ist«, entgegnete Adamsberg und steckte den Apparat ein.
    »Also gingen wir immer zu Léo«, fuhr Lina ohne jede Logik fort. »Praktisch war sie es, die uns großgezogen hat, sie und der Graf. Es heißt, Léo wird nicht durchkommen, die Maschine sei kaputt. Sie waren es ja wohl, der sie gefunden hat. Und mit Ihnen soll sie auch ein bisschen gesprochen haben.«
    »Eine Minute lang«, sagte Adamsberg und streckte den Arm aus.
    Er zog einen Kugelschreiber aus der Tasche und schrieb das Wort »Maschine« auf seine Papierserviette. Ein Wort, das schon der Arzt mit dem fischigen Namen ausgesprochen hatte. Ein Wort, das sich mit einem Nebel vor seine Augen legte, und vielleicht einer Idee in dem Nebel, aber was füreiner, das wusste er nicht. Er steckte die Serviette ein und sah wieder zu Lina, mit dem verhangenen Blick eines Menschen, der gerade erst aufgestanden ist.
    »Hatten Sie Ihren Vater in dem Heer gesehen? Damals, als Sie elf waren?«
    »Es war ein ›Ergriffener‹ dabei, ja, ein Mann. Aber da war Feuer und unglaublich viel Rauch, er hatte seine Hände vors Gesicht geschlagen und schrie. Ich bin nicht sicher, ob er es war. Aber ich nehme es an. Auf jeden Fall habe ich seine Schuhe erkannt.«
    »Und beim zweiten Mal, gab es da einen ›Ergriffenen‹?«
    »Da war es eine alte Frau. Die kannten wir gut, sie warf nachts immer kleine Steine gegen die Fensterläden. Und murmelte Verwünschungen, sie war so der Typ Frau, der alle Kinder in der Gegend erschreckte.«
    »Legte man ihr einen Mord zur Last?«
    »Davon weiß ich nichts, ich glaube aber nicht. An ihrem Mann vielleicht, der sehr früh gestorben ist.«
    »Und starb sie danach?«
    »Neun Tage nachdem das Heer erschienen war, ganz friedlich in ihrem Bett. Seitdem ist die Mesnie nicht mehr durchgezogen, bis ich sie vor einem Monat wieder sah.«
    »Und der vierte Ergriffene? Den haben Sie nicht erkannt? War es ein Mann, eine Frau?«
    »Ein Mann, aber sicher bin ich mir da auch nicht. Denn ein Pferd fiel auf ihn drauf, und seine Haare brannten, verstehen Sie. Ich konnte nichts Genaues erkennen.«
    Sie legte ihre Hand auf ihren gerundeten Bauch, als wollte sie mit den Fingern noch einmal würdigen, was sie da so schnell hinuntergeschlungen hatte.
     
    Es ging auf halb fünf, als Adamsberg zu Fuß wieder in Léos Herberge eintraf, mit etwas erstarrten Gliedern, weil er die ganze Zeit gegen sein Begehren hatte ankämpfen müssen. Von Zeit zu Zeit holte er die Papierserviette heraus, betrachtetedas Wort »Maschine« und steckte es wieder ein. Es sagte ihm überhaupt nichts. Wenn eine Idee darin enthalten war, musste sie sehr tief gesunken sein, unter einem Felsen feststecken, von Algenbüscheln verborgen. Früher oder später würde sie sich losmachen und schlingernd an die Oberfläche steigen. Eine

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