Die Nacht Hat Viele Augen -1-
Er zerrte ihn hoch, verdrehte ihn und riss ihn nach unten. Ein lautes Knirschen war zu hören. Der Mann stieß ein gurgelndes, gequältes Grunzen aus. Das Messer fiel zu Boden.
Neben der Hütte befand sich eine kleine Mauer aus Betonziegeln, und Seth entschied sich für die einfache und praktische Lösung, den gebrochenen Arm des Angreifers hochzureißen, bis er schrie und sich vorbeugte, um dem Schmerz auszuweichen, und ihn dann mit dem Kopf voran in die Mauer zu jagen. Dann zerrte er ihn zurück und wiederholte das Gleiche noch einmal, bevor er den Kerl zu Boden warf wie einen Sack voll Scheiße, der er schließlich auch war. Seth starrte hinunter auf die zuckende Gestalt, während er nach Atem rang und ihn ein Zittern überlief. Wow! Das war verdammt knapp gewesen.
Raine stürzte auf ihn zu, ihre nackten Füße flogen über den morastigen Boden. »Seth, bist du okay?«
Er atmete angestrengt, während er seine Hand auf die Seite presste. Dort war es warm und klebrig. Er riss seinen Pullover hoch und warf einen Blick auf die Wunde. Keine große Sache. Sein Pullover und die Jeans waren aufgeschlitzt, und der Schnitt war lang und blutig, aber er sah nicht besonders tief aus.
Er schob Raines Hände beiseite und unterbrach ihre ängstlichen Fragen. Er konnte sie nicht mal richtig hören, während ihm das Unvorstellbare immer wieder durch den Kopf schoss. Mit Freuden hätte er sich noch einem weiteren Auftragskiller gewidmet – wenn es sein musste, auch gleich mehreren. Hauptsache, es hielt ihn davon ab nachzudenken, sein Hirn zum ersten Mal seit Wochen wieder zu benutzen und sich zu fragen, wie zum Teufel der Kerl sie gefunden hatte trotz all der Tricks, die er eingesetzt hatte, trotz all der Mühen. Und das ausgerechnet gleich, nachdem er der einzigen Erbin seines Erzfeindes auch noch das letzte seiner Geheimnisse anvertraut hatte.
Er schob seinen Fuß unter den Körper des Angreifers und rollte ihn auf den Rücken. Er beugte sich hinunter, wobei er das Gesicht vor Schmerz verzog, und riss dem Mann die Skimaske herunter. Sein Schädel war blutüberströmt, aber das Gesicht war erkennbar. Kurzes dunkles Haar, Mitte dreißig. Durchschnittlich, unauffällig. Dicht zusammenstehende, leere braune Augen, die gebrochen ins Nirgendwo starrten. Seth legte seine Finger auf die Halsschlagader des Mannes. Nichts. Auch gut, obwohl es interessant gewesen wäre, ihn zu befragen. Jedenfalls war es nicht der Kerl aus der Templeton Street. Dieser hier war schneller, behänder gewesen. Weitaus tödlicher.
Er richtete sich auf und versuchte, sich trotz des Schmerzes in seiner Seite nichts anmerken zu lassen. Er zog Raine dichter zu sich heran, damit sie dem Killer ins Gesicht sehen konnte. »Kennst du den Kerl?«, wollte er wissen.
Sie schüttelte den Kopf, die Hände vor den Mund gepresst.
»Wie hat er uns gefunden?«, fragte er.
Sie starrte hinunter auf die Leiche, die Augen groß und ausdruckslos.
Er zog ihr die Hände aus dem Gesicht, packte ihre Schultern und schüttelte sie. »Antworte mir, Raine!«
Ihre Lippen bewegten sich, aber sie brachte keinen Laut hervor. Dann rang sie nach Atem, um irgendwie die Worte herauszubekommen.
»I…ich … weiß es nicht!« Sie begann heftig zu zittern.
Er konnte sie nicht weiter befragen, bevor sie sich nicht beruhigt hatte.
Er holte seine Waffe aus dem Unterholz und schob sie wieder in den Hosenbund. Raine stand immer noch dort, wo er sie zurückgelassen hatte, und starrte auf den Killer hinab, ohne zu spüren, wie der Regen auf ihren Kopf und ihre Schultern niederprasselte. Sie sah verloren aus.
Er lief in die Hütte, kam mit seiner Tasche zurück und nahm sie am Arm. »Komm mit«, sagte er und zog sie den Weg entlang. Wie ein Zombie stolperte sie neben ihm her, die nackten Füße völlig verdreckt.
Seth ließ seinen Blick über den Parkplatz schweifen und zählte die gleiche Anzahl von Wagen, die dort bereits gestanden hatten, als sie angekommen waren – mit Ausnahme eines neueren schwarzen Saab Sedan, dessen Motor noch warm war. Im Fenster der Hütte, in der sich die Rezeption befand, flackerte immer noch das bläuliche Licht des Fernsehers. Keine Gesichter am Fenster, keine Schüsse aus der Dunkelheit. Kein Laut, nur das Rauschen des Regens. Er schloss den Wagen auf, schob Raine hinein und fuhr hinaus auf die Straße, so schnell er nur konnte.
Der Cyborg in ihm war zurück, kalt und pragmatisch. Er konnte einen Menschen töten und ihn im Schlamm liegen lassen, kein Problem.
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