Die Nacht Hat Viele Augen -1-
»Erzähl es niemandem, aber für solche Treppenstürze bin ich schon ein bisschen alt.«
»Wie alt bist du?«
»Sechsunddreißig, in ungefähr zwei Wochen.«
Sie küsste seine Schulter. »Ich bin erst achtundzwanzig, du Kinderschänder.«
Lüstern betrachtete er sie. »Möchtest du mit mir duschen, Kleine?«
Sie reckte sich ausgiebig unter der Decke. »Mir ist zu kalt. Außerdem glaube ich nicht, dass ich mich schon bewegen kann. Meine Knochen sind weich wie Gummi.«
»Nicht nur deine Knochen sind weich, Süße.«
Der Kuss, den er ihr gab, hätte ganz leicht sehr heiß und köstlich werden können, aber er riss sich los. Später konnten sie immer noch genug Sex haben. Jede Menge. Für den Rest ihres Lebens.
»Möchtest du, dass ich etwas zu essen bestelle?«, fragte sie.
Bei diesem Gedanken knurrte sein Magen hörbar. »Gute Idee.«
»Irgendetwas Spezielles?«
Er schenkte ihr ein dümmliches Grinsen. »Ich bin nicht besonders wählerisch.«
Der Wasserdruck war besser, als er es in einer Absteige wie dieser erwartet hatte. Er stand eine ganze Weile unter dem heißen Strahl und entspannte sich. Als er zurück ins Zimmer kam, schlief sie. Auf Zehenspitzen schlich er durch den Raum und versuchte, sie nicht zu wecken. Er hatte das Gefühl zu fliegen. Am liebsten hätte er über jeden kleinen Gedanken, der ihm durch den Kopf schoss, gelacht und gleichzeitig geweint. Er zog seine Jeans über und schob leise den Sessel neben das Kopfende des Betts, damit er einfach dort sitzen und sich staunend ansehen konnte, wie schön sie war. Jedes winzige Detail faszinierte ihn. Der leichte rosa Schimmer auf ihren Wangen war das Schönste und Perfekteste, was er je gesehen hatte. Am liebsten hätte er den Rest seines Lebens damit verbracht, sie zu erforschen.
Wahrscheinlich wusste sie es noch nicht, aber sie würde ihn nie wieder loswerden.
Als das Telefon klingelte, zuckte sie zusammen. Dann lächelte sie ihm schläfrig und zufrieden zu, während sie nach dem Hörer griff. »Hm? Der … oh ja. Vielen Dank. Wie viel? Zehn achtundneunzig. Okay, danke … wir sind gleich unten.«
»Ist das Essen da?« Er zog seine Stiefel an und schlüpfte in den Pullover, streifte seine Jacke über und schob die SIG in seinen Hosenbund. »Ich hole es.« Noch ein Kuss, dann lief er im lockeren Trab den dunklen Weg hinunter. Es hatte aufgehört zu regnen, und die nassen Tannennadeln federten unter seinen Füßen. Es roch gut. Er hatte unbändigen Hunger.
Es war kein Geräusch, das ihn aufmerken ließ, denn der Kerl bewegte sich absolut lautlos. Es war ein leichter Luftzug. Ein Schauder in seinem Genick, wie das Seufzen einer Geliebten – aber kalt, nicht warm.
Er fuhr gerade noch rechtzeitig herum, um eine dunkle Gestalt auf sich zustürzen zu sehen. Im Licht der Hütte, das durch die zugezogenen Vorhänge nach draußen drang, blitzte eine lange Klinge auf, die in Richtung seines Bauchs stieß.
Er sprang zurück und parierte den Stich mit dem Unterarm, aber der Kerl war zu dicht an ihm dran. Die Messerspitze ritzte Seths Seite an, es war eine dünne, weiß glühende Linie. Er fuhr herum und rammte dem Angreifer seinen Ellbogen gegen das Kinn, spürte, wie er ruckte und grunzte. Dann wich er gerade noch rechtzeitig zur Seite aus, sodass ihn das Knie des Mannes nur gegen den Schenkel und nicht zwischen die Beine traf. Es tat trotzdem verdammt weh, aber er hatte keine Zeit, es wirklich zu spüren oder nach seiner Waffe zu greifen. Er sprang zurück, um einem weiteren Stich auszuweichen, dann noch einem. Im nächsten Moment rutschte er auf den nassen Tannennadeln aus, verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten.
Der Angreifer nutzte sofort seinen Vorteil und sprang, aber Seth blockte den Messerarm und packte das Handgelenk des Mannes. Er rammte ihm beide Füße in den Magen, hob ihn hoch und schleuderte ihn über sich hinweg. Der Kerl überschlug sich in der Luft und kam geschmeidig wieder auf die Beine. Seth rollte sich über die Schulter, sprang auf und riss seine Waffe heraus. Das Bein des Manns zuckte vor, schnell wie eine Peitsche, und trat ihm die Waffe aus der Hand.
Hinter ihm wurde es heller, als das Verandalicht aufflammte. Seth hoffte, es würde den Kerl blenden und ihm vielleicht den Bruchteil einer Sekunde Vorsprung verschaffen, denn den brauchte er, und zwar schnell.
»Seth? Was ist … Oh mein Gott!«
Mit einem drohenden Schrei sprang der Killer ihn an. Seth wich zur Seite aus und packte den Arm mit dem Messer am Gelenk.
Weitere Kostenlose Bücher