Die Nacht Hat Viele Augen -1-
Plastikfesseln waren eng um seine Handgelenke und Knöchel geschnürt.
Sie blickte sich um, aber sie konnte zwischen den Bäumen niemanden entdecken. Das Wäldchen wirkte wie der Zauberwald von Dornröschen. Alle außer ihr selbst waren in tiefen Schlaf gefallen.
Sie hatte so nahe wie möglich an dem verlassenen Herrenhaus geparkt und sich dann mithilfe des Monitors durchs Unterholz angeschlichen. Offenbar trieben sich Seth und die McClouds in der Gegend herum und schalteten Novaks Wachen eine nach der anderen aus. Das war ermutigend.
Es hatte wieder angefangen zu regnen, aber sie war viel zu überdreht, um es wirklich zu merken. Ihr Stoffwechsel heizte ihr ein wie ein Steppenbrand. Sie hatte das Gefühl, die Regentropfen, die ihre Haut trafen, müssten zischend verdampfen wie Wasser auf einem Grill.
Sie kauerte sich neben einen Baumstamm, blickte sich um und umklammerte Eds Waffe so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Seth zu Hilfe zu eilen, schien so eine gute Idee gewesen zu sein, aber nun, in diesem schweigenden, unheimlichen Wald, stiegen wieder Zweifel in ihr auf.
Aber es war viel zu spät, um sich das Ganze noch einmal anders zu überlegen. Sie konnte Seth mit der Kette in seiner Jacke nicht einfach im Stich lassen. Und außerdem … wo sollte sie sonst hin, was sollte sie sonst tun? Für sie gab es jetzt nichts anderes als diesen Augenblick, diesen Ort, diese Aufgabe. All das zerrte an ihr wie ein Sog.
Dies war der Schlüssel zu dem großen Rätsel ihres ganzen erbärmlichen Lebens. Die Krönung von allem.
Der Monitor zeigte ihr, dass sich die Kette keine dreihundert Meter nordöstlich von ihr befand. Wenn sie im Schutz dieser Weiden weiterschlich, konnte sie vielleicht …
Irgendetwas traf sie mit unglaublicher Wucht zwischen den Schulterblättern und warf sie mit dem Gesicht voran in die matschigen Blätter. Dann saß auch schon etwas Schweres auf ihr. Es bewegte sich, atmete und stank nach Zigaretten.
Es wand ihr die Pistole aus der Hand und rammte ihr die Mündung gegen den Kiefer. Ein Arm wurde um ihren Hals geschlungen und drückte ihr die Luft ab. Voller Panik machte sie mit aller Kraft einen Buckel und verschaffte sich gerade so viel Raum, dass sie den kleinen Monitor unter ein paar Blätter schieben konnte.
Das Ding auf ihr packte ihr Haar und drehte ihr Gesicht zur Seite. Sie sah weißblonde Augenbrauen, rötliche Augen, eine Hakennase. Mit gelben Zähnen grinste sie das Ding an.
»Hallo Süße. Da wird sich der Boss aber freuen.«
27
Endlich war Seth wieder ganz bei der Sache. Seine Konzentration hatte fast ihre alte Qualität erreicht; seine Sinne waren aufs Äußerste geschärft. Der Höhepunkt dieser verrückten Geschichte stand kurz bevor, und nichts würde ihn mehr aufhalten – solange es ihm gelang, die brennenden Gedanken an den einen besonderen Menschen zu verdrängen. Raine.
Für ihn durfte im Moment nur das Hier und Jetzt existieren. Er lag fünfzig Meter vom Haus entfernt auf dem Bauch. Mit Sicherheit gab es Kameras, aber man konnte nicht wissen, ob Novak auch Bewegungsmelder installiert hatte. Er bezweifelte es wegen all der Wachposten. Außerdem sah das heruntergekommene Anwesen auch nicht unbedingt so aus, als bräuchte man dafür ein hoch entwickeltes Sicherheitssystem. Es wirkte eher wie ein unheimliches Geisterhaus. Novak war die Atmosphäre offenbar wichtiger als Sicherheit.
Seth gestattete sich, einen gewissen vorsichtigen Optimismus zu verspüren. Er und die McClouds hatten die Chancen jetzt etwas ausgeglichener gestaltet. Der Monitor sagte ihm, dass sich die Corazon-Waffe in dem Haus befand. Hineinzukommen würde eine interessante Herausforderung sein. Im Schutz eines verwilderten Busches robbte er ein paar Meter näher. In seinem Headset klickte es.
»Hey, Seth.« Seans Stimme klang unnatürlich gedämpft. »Ich sage es dir nicht gern, aber … deine kleine Freundin hat beschlossen, zu uns zu stoßen.«
Seth überlief es eiskalt.
Das konnte nicht sein. Sie sollte in eine Decke gewickelt im Haus der McClouds sitzen und eine Tasse Kräutertee trinken, während Connor sie nicht aus den Augen ließ.
»Wo?«, fragte er nur knapp.
»Sie muss durch das Loch gekommen sein, dass ich in den westlichen Zaun geschnitten habe. Einer der Wachposten hat sie geschnappt. Er bringt sie ins Haus.«
»Kannst du ihn erwischen?«
»Er ist zu weit weg«, erwiderte Sean. »Ist zu riskant. Ich könnte sie treffen.«
»Scheiße«, fluchte Seth. »Ich glaube es
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