Die Nacht Hat Viele Augen -1-
Freundschaften nicht besonders förderlich gewesen, und genauso wenig hatte sie gelernt, gut mit Menschen umzugehen. Irgendwann hatte Alix dann Hugh Cameron kennengelernt und geheiratet, einen phlegmatischen schottischen Geschäftsmann. Sie und Raine hatten sich mit ihm in London niedergelassen, aber da war es schon zu spät gewesen. Raine war damals schrecklich schüchtern. Die Jungs in der Schule hatten wenig mit dem stummen, Brille tragenden Mädchen mit einem Arm voller Romane anfangen können.
Die Situation hatte sich auch nicht verbessert, als sie in die Staaten zurückgekehrt war, um aufs College zu gehen. Die Tatsache, dass sie noch Jungfrau war, hatte ihr schwer zu schaffen gemacht. Kurz nachdem sie vierundzwanzig geworden war, hatte sie Frederick Howe in Paris getroffen. Er war ein Geschäftsfreund ihres Stiefvaters, ein korpulenter Engländer Anfang dreißig, freundlich und höflich. Er war mit ihr essen gegangen und hatte dabei ununterbrochen über sich selbst geredet. Trotzdem schien er nett zu sein und in jedem Fall nicht bedrohlich. Nach dem Essen hatte sie tief Luft geholt und es dann zugelassen, dass er sie zurück zu ihrem kleinen gemieteten Zimmer begleitete.
Doch das hatte sich als großer Fehler erwiesen. Er war sehr tollpatschig und grob gewesen, hatte sich schwer auf sie geworfen, sein Atem sauer von Knoblauch und Wein. Es war vorbei, kaum dass es begonnen hatte, was unter den gegebenen Umständen ein Segen war, da es ziemlich wehgetan hatte. Und während sie sich noch im Badezimmer frisch gemacht hatte, hatte er die Wohnung ohne einen Gruß verlassen.
Nach dieser Demütigung hatte sie achtzehn Monate gebraucht, um den Mut zu fassen, es erneut zu versuchen. Als sie einen Sommer in Barcelona verbrachte, um Spanisch zu lernen, hatte sie Juan Carlos kennengelernt. Er hatte im Park gesessen und auf seinem Cello Bach gespielt. Schlank und schön, mit dunklen Locken und braunen Augen, die einen dahinschmelzen ließen, und nur Gucci und Prada am Körper. Er war von äußerster Eleganz gewesen und hatte Sensibilität ausgestrahlt. Er war so ganz anders als der korpulente Frederick, genau der Richtige, um ihre verletzte romantische Seele zu heilen.
Aber für Juan Carlos war irgendwie nie der richtige Moment gekommen, um sich leidenschaftlich auf sie einzulassen. Sie war geduldig gewesen mit ihm, hatte seine Zurückhaltung respektiert, ihm gut zugeredet und sein Ego gefüttert. Schließlich hat er ihr gestanden, dass er annahm, schwul zu sein.
Während dieses Sommers hatte sich zwischen ihnen eine tiefe und dauerhafte Freundschaft entwickelt. Er dankte es ihr, dass sie ihm Mut gemacht hatte, sich mit seiner wahren Sexualität auseinanderzusetzen, was gut und richtig war. Sie mochte ihn sehr und wünschte ihm von ganzem Herzen, dass er glücklich würde. Aber sie selbst blieb genau dort zurück, wo sie auch vorher schon gewesen war. Ruhelos und verwirrt. Noch weit entfernt von dem Gipfelkreuz des Berges, den sie zu erklimmen versuchte.
Kurz nach diesem Sommer begann sich der Traum vom Grabstein zu intensivieren. Ihre aufgestaute sexuelle Energie wurde prompt auf den zweiten Platz ihrer Liste an Problemen verdrängt und dann vollkommen vergessen.
Bis jetzt. Im denkbar schlechtesten Moment war sie auf spektakuläre Weise zurückgekehrt. Es war zum Verrücktwerden. Ihr ganzes Leben lang war sie von irgendwelchen Ereignissen herumgeschubst worden, die sich vollkommen ihrer Kontrolle entzogen. Jetzt wurde sie von einer inneren Kraft getrieben, die noch erschreckender war. Ihre Ängste, ihre Träume, ihre ganze körperliche Reaktion auf Seth Mackey.
Sie zog ihre Kostümjacke aus und hängte sie auf. Furcht konnte man sich stellen und sie überwinden, ermahnte sie sich, während sie ihren Rock abstreifte. Sie tat ihr Bestes, um mit den Träumen klarzukommen. Und was Seth Mackey anging, nun ja, das hatte sicherlich nichts mit Furcht zu tun. Er gehörte in das Reich der Einhörner und Zentauren, Dämonen und Drachen, wo selbst sie sich auf magische Weise verändert finden würde.
Sie knöpfte ihre Bluse auf, zog sie aus und warf sie auf den Stuhl. Dann starrte sie in den Spiegel, während sie sich die Nadeln aus dem Haar zog. Sie musste wirklich versuchen, nicht noch mehr Gewicht zu verlieren. Sie fing an, mickrig auszusehen. Morgen würde sie ihre Augenringe besser überschminken und etwas mehr Rouge auftragen. Sie entflocht den Zopf, dann begann sie, sich das spitzenbesetzte Hemd über den Kopf zu
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