Die Nacht Hat Viele Augen -1-
aufgewachsen war oder welches College er besucht hatte, noch nicht einmal seine Telefonnummer. Sie hatte sich wie eine Schlampe benommen. Jetzt musste sie mit den Konsequenzen zurechtkommen.
Alles in ihr zog sich vor Schmerz derart zusammen, dass sie kaum atmen konnte.
Denk wie eine Piratenkönigin, ermahnte sie sich.
Zum Teufel. Eine Piratenkönigin wäre erfahren genug, einen Mann für ihr Vergnügen zu nutzen, ohne dass es ihm gelang, alle ihre Grenzen zu überschreiten. Und ihr wäre etwas Besseres eingefallen als dieses platte, unelegante »Fahr zur Hölle«. Etwas, das ihn bis ins Herz getroffen hätte oder ihm zumindest unter die Haut gegangen wäre. Allerdings bezweifelte sie, dass der Bastard überhaupt ein Herz besaß.
Sie würde nicht mehr lange an sich halten können. Sie riss sich zusammen und zählte die Sekunden, die sie brauchen würde, um irgendeine stille Ecke zu erreichen, wo sie sich gehen lassen konnte. Ein alter Trick aus ihren Schultagen. Acht, sieben … sie bezahlte den Taxifahrer und stürmte die Stufen zu ihrem Haus hinauf. Sechs, fünf … ihre Finger zitterten so sehr, dass sie kaum den Schlüssel ins Schloss bekam. Vier … endlich war der Schlüssel drin, und sie drehte ihn um. Drei … sie stieß die Tür auf. Zwei …
»Guten Abend, Raine.«
Sie schrie auf und sprang rückwärts wieder aus der Tür.
Victor Lazar saß in der Eingangshalle und nippte an einem Whiskey. »Ich hoffe, Sie verzeihen mir, dass ich mich an der Bar bedient habe. Ich kenne mich im Haus aus, müssen Sie wissen. Ich habe die Bar vor ein paar Monaten persönlich aufgefüllt«, erklärte er.
»Ich verstehe. Das ist … äh … in Ordnung«, flüsterte sie.
Hah! Da war es wieder. Der freundliche Ton von Miss Immer-nett, die Angst hatte, irgendjemanden zu beleidigen, selbst wenn er ihr gerade mitten ins Gesicht trat. Es ging ihr wie immer gut .
Victor warf ihr ein aufmunterndes Lächeln zu und bedeutete ihr hereinzukommen. Sie trat durch die Tür. Sie war bereit, jede Sekunde zu fliehen. Adrenalin pulsierte durch ihren Körper, ihr Hirn suchte nach unzähligen möglichen Gründen, warum er hier war … ohne eingeladen zu sein … in ihrer Eingangshalle.
Keiner davon war gut.
Lieber Gott, bitte sorg dafür, dass er jetzt nicht versucht, mich anzumachen, flehte sie. Nicht das. Auf keinen Fall. Das wäre einfach zu viel. Sie würde schreiend davonlaufen. Und wenn der Traum zurückkam, würde sie einfach ihren Kopf gegen die Wand ihrer Gummizelle schlagen, bis er in einem blutigen Nebel unterging.
Plötzlich spürte sie, dass Ärger über sein anmaßendes Verhalten in ihr aufstieg – wie eine Luftblase aus dunklen Tiefen. Sie zwang sich, sich aufrechter hinzustellen.
»Sie scheinen nicht zu trinken, nach dem Zustand der Bar zu urteilen«, meinte er und ließ das Eis im Glas leise klirren.
»Sehr wenig«, erwiderte sie steif.
»Und Sie scheinen auch nicht zu essen, so wie Ihr Kühlschrank aussieht«, fuhr er sanft tadelnd fort. »Sie müssen bei Kräften bleiben, Raine. Sie brauchen keine Diät zu halten. Ganz im Gegenteil.«
»Sie haben in meinen Kühlschrank gesehen?« Ihr lauter, ungläubiger Ton überraschte sie selbst.
Er wirkte leicht verletzt. »Ich brauchte Eis für meinen Drink«, erklärte er und trank das Glas in einem Zug aus. Dann stellte er es auf das Telefontischchen. »Bitte nehmen Sie sich einen Moment Zeit und sammeln Sie sich erst einmal, Raine.« Er deutete höflich in Richtung ihres Schlafzimmers und lächelte. »Ich kann warten.«
Auf was?, fragte sie sich hektisch. Sie erhaschte einen Blick auf sich selbst im Spiegel hinter ihm und unterdrückte ein Keuchen. Ihr Haar war wild zerzaust, ihre Lippen rot und geschwollen. Ihre Bluse war zerknittert, mehrere Knöpfe fehlten, die Manschetten hingen offen herab, und die Bluse war auf der einen Seite in die Hose gestopft, auf der anderen Seite nicht. Ihre Augen glühten, umrahmt von verschmierter Schminke.
Sie atmete hörbar tief durch. Sollte sie doch aussehen wie eine Verrückte. Sie war heute einmal durch die Hölle gegangen. Das hier war ihr Zuhause, und darin würde sie sich nicht wie eine Dienerin durch die Gegend schicken lassen. Sie kramte in ihrer Tasche nach der Haarspange, wickelte ihre Locken zu einem Knoten und befestigte ihn.
Dann nahm sie ihre Brille aus der Handtasche und setzte sie demonstrativ auf. »Was wollen Sie, Mr Lazar?« Wenn ihr kleiner trotziger Auftritt ihn ärgerte, so zeigte er es zumindest nicht. Seine
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