Die Nacht in Issy
natürlich. Die Glocke von drüben schlug gerade halb eins! Ich erinnere mich genau.«
»Zieh dich an und komm mit!« sagte der Kriminalbeamte. »Wenn alles stimmt, bist du bald wieder hier. Aber ich fürchte, es wird etwas länger dauern. — Sonst noch was, Louis?«
»Nein, Inspektor.«
»Na schön. Gib deiner Alten noch einen Kuß! — Und jetzt los!«
In diesem Augenblick hörte ich wieder Schritte auf der Treppe. Wahrscheinlich ein Polizist, der nachsehen wollte.
Die Schritte kamen über den Speicher, und an der Tür von Gustaves Mansarde gab es ein Durcheinander. Sie redeten einen Augenblick alle zusammen. Dann hörte ich eine scharfe Stimme, die offenbar dem gehörte, der zuletzt gekommen war:
»Hier ist mein Ausweis, ich bin der Arbeitgeber dieses Mannes. Mein Stand ist in den Hallen. Sie können sich davon überzeugen, hier ist meine Zulassung. — Ich wollte ihm nur wegen morgen etwas sagen. Was ist denn überhaupt los?«
Eine Sekunde herrschte Schweigen, dann sagte der Inspektor: »Wir müssen ihn mitnehmen, Monsieur L’Arronge; er ist verdächtig, bei einem Einbruch auf die Polizei geschossen zu haben!«
»So, so!« sagte der Mann, und mir war, als hätte ich diese Stimme schon einmal gehört, »so, so! Das ist übel, sehr übel. Na — da möchte ich mich nicht hineinmischen. Mit Verbrechern habe ich nichts zu tun.«
Ich hörte, wie sie zusammen auf den Speicher traten, und dann vernahm ich plötzlich einen Mordsradau. Ein paar dumpfe Schläge — halberstickte Schreie — den Ruf Gustaves: »Hierher — daher!« — ein Gestampfe, hastende Schritte, die dicht an mir vorbeikamen, und dann war es ruhig. Allerdings nur für kurze Zeit.
»So ein Unglück«, hörte ich Dedé jammern, »so ein Unglück — um Gottes willen — ich weiß gar nicht — «
Und dann kamen die aufgeregten Stimmen der Polizisten. Sie riefen durcheinander, sie pfiffen, und ich hörte ihr Getrampel auf dem Speicher. Eine Weile dauerte das noch, dann wurde es ruhig.
Ein Gewitter schien zu kommen; ich hörte die Windstöße übers Dach pfeifen und die ersten großen Tropfen aufprallen.
Ganz langsam rutschte ich aus meinem Versteck, Zentimeter um Zentimeter. Anscheinend hatten sie auch Dedé mitgenommen; denn in der Mansarde war kein Laut zu hören.
Ich schlich vorsichtiger als ein Fuchs über den Speicher zur Mansarde. Die Tür war nicht verschlossen, und als ich leise eintrat, sah ich Dedé am Tisch sitzen. Sie hatte die Arme auf die Tischplatte gelegt und den Kopf darin verborgen.
»Dedé!« rief ich sie leise an.
Sie fuhr hoch und starrte mich an, als ob ich ein Gespenst wäre. Und dann sprang sie hoch und fing an, mit allem nach mir zu werfen, was ihr in die Finger kam.
Sie schrie und fluchte lästerlich dabei.
Ich schützte mich, so gut es ging, und schließlich brüllte ich sie an:
»Was, zum Teufel, ist los, du alte Vettel? Kann ich vielleicht was dafür, daß Gustave auf die Polizei geschossen hat? Wenn du nicht sofort dein Maul hältst, dann kannst du was erleben!«
Diese Sprache verstand sie und beruhigte sich.
»Ich hab’ bei Gott mit all dem nichts zu tun«, sagte ich, »du hast ja gesehen — nicht einmal gefragt haben sie nach mir!«
»Du hast uns das eingebrockt«, beharrte sie und schaute mich giftig an, »ohne dich wäre die Polizei niemals gekommen.«
»Er ist doch getürmt?« fragte ich.
»Ja, der andere und er. Ich weiß selber nicht, es ging alles so schnell. Sie standen hier in der Tür, und auf einmal schlug der andere zu, Gustave auch, und dann nichts wie fort.«
»Wer war der andere, Dedé?«
»Keine Ahnung! — Niemand, den ich kenne. Ein baumlanger Kerl mit roten Haaren.«
»Mit roten Haaren? Und einem Gesicht wie ein Pferd?«
»Hm!« nickte sie.
»Aber Dedé, das war doch der Mann — von dem ich erzählt habe, der mich hierhaben wollte! Er ist doch einer von Labourusses Leuten!«
»Meinst du?« fragte sie, schon halb versöhnt.
»Natürlich, wer sonst? Er hat mich hierher bestellt.«
Das Gewitter brach mit voller Stärke los. Der Regen kam in ganzen Wänden aus Wasser angebraust und prasselte gegen Dach und Fenster. An einer Stelle, dicht neben dem Herd, kam das Wasser mit einem feinen Strahl herein. Dedé sprang auf und stellte einen Eimer unter.
»Immer ist das so«, jammerte eie, »immer wenn’s so heftig gießt. Die Ziegel sind kaputt, und kein Mensch läßt das richten.«
Es plätscherte lustig in den Eimer.
»Ich möchte nicht länger hierbleiben«, sagte ich,
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