Die Nacht in Issy
mich zunächst dumm zu stellen.
»Hm, das klingt verlockend. Aber was ist dann? Wovon soll ich leben? Mein Bruder hatte ein ziemliches Vermögen — ich bin der einzige Erbe und ...«
»... und das weiß die Polizei schon längst«, fiel er mir ins Wort. »Sie glauben doch nicht im Ernst, daß Sie Chancen haben?«
»Wenn ich Alexandres Mörder finde, werde ich Chancen haben.«
»Wenn!« sagte er betont, »aber das wird Ihnen kaum gelingen. Morgen ist eine Belohnung auf Ihre Ergreifung ausgesetzt.«
»Ach«, machte ich, »das wissen Sie jetzt schon?«
Er nickte. »Der >Figaro< wird von mir kontrolliert. Ich selbst habe tausend Francs dafür gestiftet.«
»Tausend Francs?« fragte ich. »Dann bin ich Ihnen nicht allzuviel wert.«
»Übermorgen sind es dreitausend.«
»Nicht schlecht, Monsieur Labourusse. Also setzen wir einmal den Fall, ich würde Ihnen die Papiere geben. — Wer garantiert mir dafür, daß Sie Ihr Versprechen halten? Sie könnten mich dann sofort der Polizei melden.«
»Das könnte ich«, sagte er, »und ich würde es auch tun, wenn ich nicht noch andere Interessen hätte. Ich brauche Sie nämlich.«
»Mich?«
»Ja. Ich kann nicht alles allein machen, und Alexandre ist nicht mehr. Ich möchte Mignard hochgehen lassen; aber dann brauche ich jemanden, auf den ich mich verlassen kann, jemanden, der Köpfchen hat, und jemanden, der — im gleichen Wasser paddelt.«
»Aha!« machte ich und setzte ein erstauntes Gesicht auf. »Aha, und das soll ich sein? — Wird sich das aber Pierre gefallen lassen?«
»Ach, Pierre!« rief er ärgerlich, »Pierre ist ein dummer Hanswurst. Er ist ein Prolet und wird es immer bleiben, auch wenn er bei Chiron arbeiten läßt. Pierre ist ein Narr, der blödsinnige Einbrüche inszeniert und sich am wohlsten fühlt, wenn er sein Geld mit Weibern in der Rue de la Harpe verjubeln kann.«
»Hm! — Und Francois?«
»Das gleiche. Francois ist brauchbar — für gewisse Dinge, die sich manchmal nicht umgehen lassen. Aber er hat keinen Kopf.«
»Und woraus schließen Sie, daß ich einen habe?«
»Erstens«, sagte er, »haben Sie Kinderstube. Sie können im >Elysée< essen, ohne dem Kellner aufzufallen. Zweitens haben Sie Bildung. Sie sind doch Doktor, nicht?«
»Ja, aber auf einem Arbeitsgebiet, das dem Ihren nicht sehr ähnelt.«
»Das macht nichts«, bemerkte er ernsthaft. »Und drittens habe ich Sie zur Genüge beobachtet. Daß Sie auf den Gedanken mit den Papieren gekommen sind, hat mir imponiert. Sie haben mir eine schlaflose Nacht bereitet, mein Lieber!«
»Das freut mich.« Ich war ehrlich begeistert.
»Sie sehen also«, fuhr er fort, »meine Gründe sind stichhaltig. Wenn ich die Papiere habe, kann ich es so einrichten, daß Mignard erledigt ist. Es ist schon vorgesorgt, daß ich seinen Posten einnehmen werde. Und dann brauche ich Sie — für alles andere.«
»Hm!« Es machte mir Spaß, ihm zuzuhören. So angenehme Dinge hatte mir schon lange niemand mehr gesagt.
»Und«, fragte ich, »wenn ich nicht will?«
»Sie können nicht >nicht wollen<«, betonte er mit ehrlicher Überzeugung, »denn Sie wissen genau, daß Sie keine andere Wahl haben.«
»Das allerdings«, rief ich und ließ den Kopf hängen. Mir schien, als habe sich der Vorhang bewegt. Auch von da aus konnte man mich abknallen; aber ich nahm an, daß er sich wahrscheinlich einer weniger geräuschvollen Art bedienen würde. Außerdem hatte er die Papiere noch nicht.
Der Vorhang bewegte sich wieder, und dann kam sie herein.
Sie war höchstens fünfundzwanzig und war bildhübsch.
Labourusse und ich standen auf.
»Meine Schwester, Madame Mueller«, stellte er vor, »und das ist Monsieur Bouchard.«
Sie gab mir unbefangen die Hand. Sie hatte sehr dunkles, kurz geschnittenes Haar und eisgraue Augen.
»Guten Abend, Monsieur Bouchard!« Sie lächelte mich an. Ich war durch das Aufstehen ein wenig aus der Richtung gekommen, und Madame Mueller setzte sich auf meinen Platz auf die Couch. Sie wollten mich also von da weghaben. Ich pflanzte mich in den linken Klubsessel, so daß ich wenigstens das Fenster mit dem Baugerüst im Auge behalten konnte.
»Yvette«, meinte Labourusse, »Monsieur Bouchard ist so liebenswürdig, meine Vorschläge in Erwägung zu ziehen.«
Sie nickte mir zu.
»Wir haben über alles gesprochen«, sagte sie, »ich glaube auch, daß das in Ihrer Lage am besten ist.«
»Mein Gott«, erwiderte ich, »Sie sind alle so nett zu mir. Ich weiß nun wirklich nicht — es ist sehr
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