Die Nacht in Issy
Schulter.
»Nicht weinen, Germaine«, bat ich, »es ist alles nicht so schlimm. — Sie sind überanstrengt, es war zuviel für Sie.«
Sie wandte sich ab und ging in das Schlafzimmer. Als sie zurückkam, sah sie ruhiger aus.
»Sie haben recht«, meinte sie und versuchte zu lächeln, »es war etwas viel für mich. Ich wollte — «.
»Was wollten Sie, Germaine?«
»Sie sollten weg«, rief sie, »Sie sollten Ihren Traum verwirklichen. Sie sollten ins Ausland gehen, irgendwohin und alles vergessen.«
Meine weiche Stimmung war im Nu verflogen. >Aha!< dachte ich, >nun kommt’s. Schau einer doch dieses Mädchen an! Man irrt sich, sooft man glaubt, eine Frau zu kennen.<
»Hm«, machte ich und ließ mich in den Sessel fallen, »womöglich haben Sie recht.«
»Bestimmt«, sagte sie, »es ist viel zu gefährlich, hier zu bleiben. Man könnte Sie verhaften, ehe Sie — ehe Sie den — den Mörder gefunden haben. Oder Labourusse könnte Sie erwischen — er plant nichts Gutes gegen Sie, oder — ja, Sie müssen fort.«
»Hm«, machte ich wieder und schloß die Augen, »das ist leider nur ein schöner Traum, Germaine. Wie sollte ich das machen? Ich habe zwar noch ein paar Kröten, aber keine Papiere. Und die Quelle, aus der die schönen, falschen Papiere kommen, die habe ich mir selber vermauert. Wie sollte ich ins Ausland kommen?«
Sie fuhr mit der Fußspitze über das Teppichmuster.
»Vielleicht«, begann sie zögernd, »könnte ich Ihnen helfen.«
»Hallo!« rief ich und riß erstaunt die Augen auf. »Haben Sie denn solche Beziehungen? — Aber ja, natürlich — Ihr Vater!«
Sie nickte nur, und ich wartete gespannt, wann sie von den Papieren anfangen würde.
Das war das dicke Ende, und es mußte nun bald kommen.
»Wie lange würde es dauern«, fragte ich, »bis ich die Papiere für meine Ausreise bekommen könnte?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Vielleicht zwei oder drei Tage, vielleicht auch etwas länger. Ich muß sehen, daß es rasch geht.«
Ich ließ betrübt den Kopf hängen.
»Und wenn man mich in der Zwischenzeit verhaftet?«
»Sie — Sie könnten — « sie stockte, und ich sah, wie sie daran rumwürgte, »Sie — bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, Sie könnten hierbleiben, bis die Papiere — «
»Germaine«, rief ich, »Sie wissen nicht, was Sie da sagen! Wenn die Polizei es erführe, wären Sie auch dran! Wie könnten Sie einem verfolgten Mörder, vor dem die Presse warnt und auf dessen Ergreifung eine Belohnung ausgesetzt ist — wie könnten Sie dem Unterschlupf bieten!«
Sie blickte mich voll an. Es war ein Blick voller Unschuld und Offenheit — er war hervorragend echt gemacht.
»Ich könnte es«, sagte sie, »und ich würde es tun.«
Ich nahm ihre Hand, sie war eiskalt.
»Ich danke Ihnen!« sagte ich und gab mir Mühe, meine Stimme von Rührung vibrieren zu lassen, »ich danke Ihnen sehr!«
Zum Teufel, wann verlangte sie nun endlich die Papiere von mir?
Sie aber sagte gar nichts, sondern ließ mir ruhig ihre Hand.
>Aha<, dachte ich weiter, >das gehört also zu dieser Rolle! Sie spielt gar nicht ungeschickt<. Sollte ich weiterhin mitspielen, oder sollte ich ihr in das unschuldige Gesicht schlagen? Ich beschloß, weiter zu spielen, es machte mir Spaß. Und es war im Augenblick nicht weiter gefährlich für mich; im Gegenteil.
»Sie sind ein Engel«, flüsterte ich, »Sie sind meine Rettung. Ich bin nämlich nicht der starke Mann, als der ich vor Ihnen erscheinen wollte. Ich bin kaputt, entnervt, verbraucht, bin wie ein hysterisches Frauenzimmer. Ich denke Tag und Nacht nur noch an meine Rettung. Ich will nicht wieder ins Zuchthaus!«
Sie fuhr mir leicht übers Haar. Ihre Augen waren warm und mütterlich.
»Bleiben Sie«, sagte sie, »ich werde für Sie tun, was ich kann.«
>Und für die Papiere<, dachte ich.
»Gut«, sagte ich, »ich werde Ihnen zum Dank dafür die Akte Mignard geben.«
Sie wurde blaß und schluckte.
»Nein«, wehrte sie ab, »das dürfen Sie nicht! Das dürfen Sie auf keinen Fall! Es ist die einzige Sicherheit für Sie! Verstecken Sie die Papiere irgendwo! Verstecken Sie sie so, daß Labourusse sie nicht in die Hände bekommt.«
Ich war ein wenig aus dem Konzept gebracht. Aber nur für Sekunden. Dann war mir auch dieser Akt des Theaterstückes klar: sie wollte vermeiden, mich mißtrauisch zu machen. Wenn ich erst einmal hier wohnte, dann würde sie sich wohl überreden lassen, die Akte anzunehmen.
»Doch«, beharrte ich, »ich werde kommen und die
Weitere Kostenlose Bücher