Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
von U2 aussieht. Was ihm eine Reihe sehnsüchtiger Blicke der vorübergehenden Mädchen eintrug. An der Straßenecke war nicht viel Platz, aber die etwas nach hinten versetzte Tür, die zu einem der Second-Hand-Läden führte, reichte aus, um Zuflucht zu suchen, wenn der Fußgängerstrom zu dicht wurde. Die Autos krochen auf der Straße vorbei, die Fenster offen und die Stereoanlagen auf höchste Lautstärke gedreht – Konkurrenz, auf die sie gut und gerne verzichten konnten, wo sie doch nur zwei Verstärker mitgebracht hatten.
»Unser Prediger ist auch schon da, pünktlich wie immer«, stellte Rick fest, als er sich anschickte, seinen Gitarrenkasten aufzuklappen. Mickey beendete sein Lied und sah die Straße hinunter.
»Heute ist er näher dran.«
»Ich glaube, die Kellner im Flamingo haben neulich Abend die Bullen gerufen. Er hat die Leute beim Essen auf der Terrasse gestört. Der Kerl hat doch die ganze Nacht über Aids und den Lohn der Sünde gemeckert. Ich möchte wissen, was er heute draufhat?«
»Hoffentlich den Fluch von Rock ’n’ Roll. Die Nummer mag ich«, witzelte Mickey und warf dem Prediger dann einen vorsichtigen Blick zu. Man war sich insgesamt auf der Straße darüber einig, dass der Mann – sie nannten ihn den Holy Roller – harmlos war – eine weitere verlorene Seele, die zu viel Religion oder zu viel Rauschgift oder beides verrückt gemacht hatte. Er war eigentlich keiner von der Straße – dafür war er zu sauber. Eine hart herbeigeschrubbte Reinlichkeit, die irgendwie zu seiner Bigotterie passte.
Sein Gesicht war faltig und von einer schlammbraunen Haarmähne umrahmt. Es war ganz anders als die ausdruckslosen Visagen und das einstudierte Lächeln der Fernsehprediger. Aber wenn sein Gesicht daran Schuld trug, dass ihm die Dollarströme des Fernsehens versagt blieben, dann konnte seine Stimme durchaus alle Valwells und Swaggarts dieser Welt beschämen.
Zumindest musste es einmal so gewesen sein, dachte Mickey mit der besonderen Fähigkeit des Musikers, der in einer Stimme das Echo vergangener Schönheit hören konnte. Jetzt hatten Alkohol oder Krankheit oder auch nur die endlose Pflicht, einer gleichgültigen Welt ins Gewissen reden zu müssen, ihren Tribut gefordert. Und wenn der Holy Roller jetzt predigte, hörte man Krähen, nicht Engel. Mickey mochte es nicht, wenn er mit seinem Gesang dieses Geschwafel übertönen musste, auch wenn es ihm und Rick geradezu diebisches Vergnügen bereitete, Lieder zu spielen, die einen ironischen Kontrapunkt zur Predigt des Mannes bildeten.
Das Klimpern von Ricks Gitarre riss ihn aus seinen Gedanken, und sie fingen an, ihre Instrumente zu stimmen, gelegentlich dabei innehaltend, um sich auf der Straße umzusehen. Als die beiden Instrumente fast wie eines klangen, zog sich Rick den Filzhut tiefer ins Gesicht und grinste Mickey von der Seite her an. »Also, Kumpel, wollen wir versuchen, uns heute Abend die Miete für diese Woche zu verdienen? «
»Warum nicht? Schließlich haben wir ja nichts anderes zu tun«, sagte Mickey mit einem sarkastischen Grinsen und war sich zugleich darüber im Klaren, dass sie ziemlich lange dafür würden arbeiten müssen. »Fangen wir mit ›I Knew the Bride‹ an?« Rick nickte, gab den Takt vor, und der Abend begann.
Eine Stunde später hatte sich ein kleiner, dauernd in Bewegung begriffener Kreis um sie versammelt. Manche Leute blieben nur ein, zwei Takte, andere ein ganzes Lied, wenn es ihnen gefiel. Wieder andere lungerten einfach herum, um sich gratis unterhalten zu lassen. Oder fast gratis. Mickeys Gitarrenkasten lag offen auf dem Boden, eine stumme Einladung an alle, einen Obolus zu entrichten. Wie üblich, hatten sie selbst ein paar Geldscheine hineingelegt, um in den Gedanken ihrer Zuhörer die Idee der Großzügigkeit aufkommen zu lassen.
Anscheinend hatte es funktioniert, dachte Mickey, als er einen kurzen Blick auf ihre Einnahmen warf. Das würde vielleicht wirklich einen erheblichen Teil der Miete abdecken, vielleicht sogar noch vor Mitternacht.
Als er wieder aufsah, stand das Mädchen vor dem Kreis und beobachtete ihn. Mickey starrte sie einen Augenblick lang an, weil er einfach nicht anders konnte. Ihr Haar war auffällig schwarz – gefärbt, erkannte er. Unter dem fransigen Pony bedeckte eine Sonnenbrille ihre Augen. Gibt sich große Mühe, cool zu wirken, entschied er. Oder die Linien und Narben eines zu harten Lebens zu tarnen. Ihr Gesicht war bleich, abgesehen von ihren Lippen, die auf ihrer
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