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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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verbrachte Ardeth damit, sich auf der Queen Street herumzutreiben; oder auf der Yonge mit ihrem beständigen Strom von Autos und Menschen, welche die Straße wie auf einer endlosen Tretmühle hinauf- und hinunterströmten. Oder sie hielt sich in den Parks hinter der Carlton und der Jarvis Street auf, wo die Landstreicher und die Schwulen zu Hause waren. In Yorkville war sie bisher erst ein- oder zweimal gewesen.
    Ebenso wie die Queen Street hatte dieser Ort ihr früher Angst gemacht, mit seinen vielen teuren Läden, den Schlangen von BMWs und Ferraris, die entlang der Bürgersteige dahinrollten, den Scharen teuer gekleideter, teuer frisierter und mit viel Geld ausgestatteter Bewohner. Jetzt fühlte sie sich wie ein Hai inmitten phosphoreszierender Fische, die im wechselnden Licht hin und her huschten und aufblitzten, in ihrer Verblendung nichts von dem dunklen Schatten ahnend, der zwischen ihnen dahinglitt.
    An diesem heißen Sommerabend waren auch die Straßenverkäufer unterwegs und priesen alles an, was man sich vorstellen konnte – angefangen von seidenen Halstüchern bis hin zu nachgemachten Rolexuhren.
    Seit sie das letzte Mal hier gewesen war, war noch eine Schar von Wahrsagern dazugekommen – dickliche, europäisch aussehende Frauen in mittleren Jahren, die Kleider aus bedruckten Stoffen trugen und sich Madame Marisa oder Madame Elana nannten.
    Eine passte allerdings nicht zu dem Klischee, stellte Ardeth fest. Sie konnte höchstens siebzehn oder achtzehn sein, noch schlank und schön. Ihr langes, ovales Gesicht, eingerahmt von einer schwarzen Haarflut, wirkte wie das einer Renaissancemadonna. Sie trug ein ärmelloses weißes T-Shirt-Kleid und saß hinter einem Tisch, auf dem eine handgemalte Tafel Auskunft über »Ihr wahres Schicksal« versprach. Ardeth bezweifelte, dass sie wirklich die »Madame Adela« war, die auf der Tafel erwähnt wurde. Vermutlich war sie eine Tochter, Enkeltochter oder Nichte, ein Lehrling in dem Gewerbe, Leichtgläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen, für den Augenblick von ihrer Lehrmeisterin allein gelassen.
    An Kunden fehlte es ihr freilich nicht. Ihre unschuldige, dunkle Schönheit zog eine Gruppe junger Männer an, die ihr dabei zusahen, wie sie die Karten mischte, um ihre Zukunft zu lesen. Interessiert ging Ardeth hinten um sie herum und schob sich auf die Treppe des Gebäudes links hinter dem Tisch des Mädchens. Sie ließ sich auf der obersten Stufe nieder und beobachtete das Geschehen durch ihre dunkle Brille.
    Das Schicksal, das die Karten verkündeten, schien das übliche zu sein – Wohlstand, Liebe, Glück, Gesundheit. Aber die Kunden in diesem Stadtteil erwarteten nicht mehr als gute Unterhaltung, und deshalb würde es eine mutigere oder dümmere Novizin als diese Madonna erfordern, um hier einen komplizierteren Schwindel zu versuchen. Nach ein paar Augenblicken erfolglosen Flirtens schlenderten die Männer weiter, zufrieden, dass die Karten ihre eigenen Erwartungen von hoch bezahlten Stellungen, schönen Frauen und einem langen Leben bestätigt hatten.
    Ardeth blieb, wo sie war – den Ellbogen auf ein Knie gestützt und das Kinn auf dem Handrücken – und beobachtete die Menge. Ein junger Mann, der die Straße heraufkam, erregte ihre Aufmerksamkeit. Sein Gesichtsausdruck war der eines Menschen, der zu lange gefeiert oder zu viel Zeit darauf verwendet hatte, seine Sorgen in den Bars zu ertränken. Er sah gut aus, wenn auch auf eine strahlend blonde Art, die sich so völlig von der blassen, dunkelhaarigen Intensität des Menschenschlags unterschied, in deren Mitte sie sich üblicherweise bewegte. Sein Haar hatte die Farbe von Karamell oder vielleicht auch von Honig, der gerade zu kristallisieren beginnt. Er war jünger als sie, erkannte Ardeth plötzlich, trotz des teuren Anzugs und der champagnerschwangeren Bewegungen.
    Fast wäre er an dem Stand des Mädchens vorbeigegangen, schien ihn dann aber plötzlich wahrzunehmen. Er schwankte einen Augenblick, dann erkannte Ardeth sein ›Warum-zum-Teufel-eigentlich-nicht? ‹-Achselzucken. Er ging auf den Tisch zu, musterte den Namen auf der Tafel mit zusammengekniffenen Augen und betrachtete dann das glatte Gesicht, das er vor sich sah. »Sie sind nicht Madame Adela«, verkündete er.
    »Nein. Ich bin ihre Enkeltochter Marisa. Aber ich bin in der alten Kunst bewandert. Ich kann Ihnen die Zukunft voraussagen«, antwortete das Mädchen leise, mit einer Stimme voll sittsamen Versprechens. Der Mann lachte und wühlte in

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