Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
schreiben, muss man älter sein und …«, er tastete nach dem richtigen Wort und verkündete es dann triumphierend, »ein bisschen seltsam.«
»Das sind einige meiner Kolleginnen auch.«
»Sie sind ganz und gar nicht seltsam.« Er grinste. »Heißen Sie wirklich Carmilla?« Ardeth lachte.
»Unglücklicherweise ja. Meine Mutter war eine große Liebhaberin von Le Fanu.« Er verstand nicht, was sie damit sagen wollte, tat es aber mit einem Achselzucken ab, entweder weil er sein Unwissen nicht zugeben wollte oder weil es ihm egal war.
»Was machen Sie dann so ganz alleine hier?«
»Recherchieren«, erwiderte sie und kostete dann die Ironie der Bemerkung einen Augenblick lang aus. »Ich beobachte die Leuten.«
»Und? Haben Sie irgendwelche interessanten Leute entdeckt? «
»Ein paar.« Sie lächelte und ließ den Blick einen Augenblick lang an ihm haften, ehe sie auf die Straße sah. »Ich habe ein paar Männer gesehen, die versuchten, die Welt zu beeindrucken, indem sie Mobiltelefone benutzten, während sie die Straße hinuntergingen. Und dann habe ich viel zu viele Frauen gesehen, die zu enge Kleider trugen. Und zwei junge Männer, die sich überlegten, ob sie wohl einen Porsche, der hinter diesem Gebäude abgestellt ist, klauen könnten, ohne dabei erwischt zu werden.« Philip lachte.
»Und haben sie es getan?«
»Nein.«
»Immerhin müssen Sie ihnen zubilligen, dass sie Geschmack haben.«
»Ja, wahrscheinlich schon. Haben Sie als Junge Autos geklaut? «
»Nein. Aber als ich vierzehn war, sind ein paar Freunde und ich in fast jedes Haus in unserer Straße eingebrochen.«
»Warum? Wegen Geld?«
»Nein, unsere Mommies und Daddies hatten davon genug. Wegen des Nervenkitzels hauptsächlich. Um zu beweisen, dass wir es konnten. Um zu sehen, was passieren würde, wenn man uns erwischt.«
»Und hat man Sie erwischt?«
»Natürlich. Einer der Jungs hat es seinen Eltern erzählt.«
»Und was ist dann mit Ihnen passiert?«
»Man hat mich auf ein Internat in Europa geschickt«, sagte er mit einem triumphierenden Grinsen.
»Das muss schrecklich für Sie gewesen sein.« Ardeth drehte ihr Glas in der Hand, so dass der Wein darin herumwirbelte, während ihr langsam eine Idee kam. Eine Chance, mit ihm alleine zu sein, ohne seine Wohnung oder ein Hotel oder eine der Seitengassen zu riskieren, die hier an der »Platinmeile« viel weniger häufig und viel heller beleuchtet waren. Sie nahm einen abrupten Schluck aus ihrem Glas und hoffte, dass die Bewegung das richtige Maß an Leichtsinn vermittelte. »So etwas habe ich auch immer tun wollen.«
»Was? In Häuser einbrechen?«
»Ja. Etwas, wozu Mut gehört …« Ardeths Stimme wurde leiser, sie beugte sich vor, und ihre Augen suchten die seinen. »Kommen Sie mit.«
»Sie meinen, in ein Haus einbrechen? Jetzt?«
»Ein leerstehendes. Warum nicht? Es ist beinahe Mitternacht, niemand wird uns sehen. Und niemandem wird es etwas ausmachen. Wir könnten einfach für eine Minute hineingehen.« Er sah sich um, empfand schon im Voraus Schuldgefühle. »Um in Häuser einzubrechen, sind wir nicht gerade richtig angezogen.«
»Es wird ganz einfach sein. Ich komme jeden Tag an einem vorbei und weiß, dass dort ein Fenster ein Stück aufsteht.«
»Na ja, aber … gibt es nicht oft in solchen Häusern Hausbesetzer, Sie wissen schon, Skinheads und Betrunkene?«
»In Yorkville? Jetzt kommen Sie schon – was kann denn schlimmstenfalls passieren?« Darauf wusste er keine Antwort, und Ardeth bot ihm keine an.
Zehn Minuten später führte sie ihn hinter den abgedunkelten Laden an der Ecke und kletterte vor ihm durch einen Spalt in dem Holzzaun. Er folgte ihr und wischte sich dann beunruhigt übers Jackett. »Carmilla, ich glaube nicht, dass das eine besonders gute Idee ist.« Sie hielt die Finger an die Lippen und deutete dann auf das Haus.
»Sehen Sie das Fenster im ersten Stock? Wir brauchen bloß auf das Verandadach zu klettern, und schon sind wir drinnen«, flüsterte sie. Er sah mit zusammengekniffenen Augen auf das mit Brettern vernagelte Fenster.
»Ich sehe nicht, wo man dort reinkommt.«
»Glauben Sie mir.« Sie führte ihn durch das wuchernde Gestrüpp hinter dem Haus. Als er sie eingeholt hatte, zog sie ihn in den Schatten der Veranda, zog ihn an sich. »Das ist die Stelle, wo das Mädchen gestorben ist. Sie wissen schon, dieser Sektenmord letztes Jahr.«
»Himmel.« Er blickte zu dem Haus auf, das über ihnen aufragte, und sah dann wieder in ihr von Schatten bedecktes
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