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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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Schultern reichte. Sie trat auf die Straße hinaus, als die Ampel gerade auf Gelb umschaltete, und blieb dann mit einem etwas linkischen Ruck stehen. Sara, die hinter ihr ging, spürte, wie sich ihr Herz plötzlich schmerzhaft zusammenzog. Ardeth tat solche Dinge, wie sich beispielsweise nicht entscheiden zu können, noch bei Rot hinüberzulaufen oder sich auf den sicheren Bürgersteig zurückzuziehen. Selbst das Haar der Frau sah wie das von Ardeth aus.
    Einen Augenblick lang erfasste sie Schwindel, und Sara dachte, vielleicht ist sie’s …, und dann dehnte sich ihr Herz so plötzlich aus, dass ihr die Brust wehtat. Aber nein, das Mädchen war zu groß, und ihre Art zu gehen stimmte nicht, und die Kleider auch nicht.
    Sie ließ langsam den Atem aus ihren Lungen und kämpfte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen treten wollten. Manchmal fragte sie sich, warum es eigentlich so wehtat. Sie und Ardeth hatten einander eigentlich nie so besonders gemocht. Aber die Abwesenheit ihrer älteren Schwester war wie ein großes, eiskaltes Vakuum in ihrer Brust.
    Sie hatte tausend andere Ungewissheiten ohne Frage hingenommen: Wo sie schlafen würde, woher sie ihre nächste Mahlzeit bekommen würde, ob der Gitarrist, mit dem sie geprobt hatten, auch rechtzeitig für den Gig auftauchen würde oder ob sie jemand anderen würde suchen müssen – all jene Dinge hatte sie ohne Probleme bewältigt. Sie hatte alles, was hätte passieren können, einfach mit einem Achselzucken abgetan. Genau wie Träume, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte. Aber Ardeth, Ardeth war für sie immer so etwas wie ein ruhender Pol gewesen. Immer in der Uni, immer vernünftig, immer vorsichtig. Es beunruhigte Sara mehr, als sie zugeben konnte, dass das Verschwinden ihrer Schwester jedes ihrer Vorurteile zerschmettert hatte.
    Vielleicht ist sie einfach weggelaufen, nach Paris oder Tahiti oder Tibet. An irgendeinen Ort, der genauso frivol ist wie sie vernünftig. Jeden Tag, sagte sich Sara zum hundertsten Mal seit zwei Monaten, jeden Tag werde ich jetzt eine Postkarte oder einen Anruf von ihr bekommen. Und dann würde Ardeth lachen und sagen: »Ich hab’s endlich getan, Sara. Ich habe endlich gelernt, wie man Spaß hat. Mit der verlässlichen, durchschnittlichen, prüden Ardeth ist jetzt Schluss.«
    Das wütende Hupen eines Autos riss Sara aus ihrem Tagtraum. Plötzlich bemerkte sie, dass sie einen ganzen Block weit gegangen war, ohne es zu bemerken. Im Augenblick schlenderte sie gerade gleichgültig über eine Kreuzung, während die Ampel auf Gelb schaltete. Sie blieb stehen, um dem Fahrer des Wagens den Mittelfinger zu zeigen, der die obszöne Geste erwiderte, dann hastete sie zur anderen Seite.
    Genug, dachte sie und schob ihre Sonnenbrille, die auf ihrer Nasenspitze balancierte, nach oben. Über sie nachdenken bringt sie nicht nach Hause. Du hast alles getan, was du kannst. Die Polizei, die Zeitungen, deine Freunde – alle sagen dasselbe: Sie ist verschwunden. Andere Dinge sagten sie auch, aber Sara weigerte sich hartnäckig, sie auch nur in Betracht zu ziehen.
    Sie hörte, wie jemand hinter ihr etwas schrie. Eine Männerstimme, die brüllte: »Hey, Sie!« Sie achtete nicht darauf, bis jemand sie an der Schulter packte und herumriss.
    »Was bilden Sie sich eigentlich ein?«, fragte sie, als sie erkannte, dass das etwas vierschrötige, aber sympathische Gesicht das eines völlig Fremden war. Der Mann starrte sie einen Augenblick lang scharf an, ohne die Hand von ihrer Schulter zu nehmen.
    »Ich erinnere mich an Sie. Damit haben Sie nicht gerechnet, oder?«, sagte er schroff.
    »Wovon reden Sie eigentlich?«, konterte sie und versuchte, seine Hand abzuschütteln. Aber seine Finger ließen nicht los.
    »Was ist mit Rick passiert?« Die dunklen Augen unter seinem borstigen braunen Haar brannten vor Wut, und Sara verspürte, wie eine Anwandlung von Furcht ihr eisige Schauer über den Rücken jagte. Aber es ist doch helllichter Tag, sagte sie sich. Er kann mir doch nicht auf einer bevölkerten Straße am helllichten Tag etwas zuleide tun.
    »Welcher Rick?« Ihre Stimme klang jetzt ebenfalls scharf, vermittelte zugleich Ärger und Angst. Plötzlich packte der Mann auch ihre andere Schulter.
    »Sie haben wohl nicht einmal gefragt, wie er heißt, wie?«, höhnte er. »Was haben Sie mit ihm gemacht?«
    »Ich weiß nicht, wovon Sie reden!«
    »Doch, das wissen Sie sehr wohl. Vor zwei Wochen, am Freitag, an der Ecke John und Queen Street. Rick, der

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