Die Nacht von Granada
darüber klar werden konnte, was er eigentlich wahrgenommen hatte, war die Gestalt allerdings schon wieder verschwunden.
Für einen Augenblick hatte sie ihn von dem ungleichen Kampf auf der Gasse abgelenkt. Doch nun war seine Aufmerksamkeit zurück, und was Kamal zu sehen bekam, erstaunte ihn sehr.
Angefeuert von schrillem arabischem Geschrei, hatte Amir dem ersten Söldner den Spieß mit dem Schweinefleisch aus der Hand gerissen und hieb mit ihm wie mit einem hölzernen Schwert wild durch die Luft. Fleischfetzen fielen herunter, was die Menschen auf der Gasse zu immer begeisterterem Johlen veranlasste. Offenbar war der Schwertträger zu langsam oder zu verblüfft, um parieren zu können; denn seine Bewegungen wurden nach und nach ungelenker, bis er plötzlich über eine straff gezogene Schnur stolperte und wie ein nasser Sack zu Boden stürzte.
»Lauf, Amir!«, ertönte nun der Schrei aus unzähligen Kehlen, was sich der magere Schneider nicht zweimal sagen ließ.
Leichtfüßig wie ein junger Windhund spurtete er los, während der erste Söldner ihm in einigem Abstand folgte und der zweite sich erst mühsam wieder aufrappeln musste.
»Das werdet ihr büßen!« Das rote Barett des Söldners, das schief auf seinem grindigen Schädel saß, als er endlich wieder auf den Beinen war, hatte durch den Sturz hässliche Flecken bekommen und wirkte nun eher lächerlich als respekteinflößend. »Wir finden ihn, und dann wird er darum betteln, niemals geboren worden zu sein. Und ihr alle mit dazu!«
Jetzt sagte keiner mehr ein Wort, doch viele Münder waren spöttisch verzogen, während die Menschen wieder in ihre Häuser zurückkehrten.
Auch Kamal konnte ein Lächeln über Amirs pfiffiges Entkommen nicht ganz unterdrücken. Außerdem hatte das frühe Aufstehen mittlerweile geradezu ein Loch in seinen Magen gebrannt. Vielleicht könnte er ja Djamila überreden, ihm gefüllte Weinblätter, ein Schälchen mit Kicherbsenmus und Fladenbrot zu bringen, Kostproben ihrer berühmten Kochkunst, bevor er erneut …
Alles in ihm erstarrte.
Das graue Tuch lag noch immer auf der Werkbank, so wie er es zuvor zurückgelassen hatte. Aber es war leer.
Sein Körper reagierte sofort. Angstschweiß rann ihm in Strömen über den Rücken und das Herz hämmerte wie wild in seiner Brust.
Ob der Beutel mit dem Gold auch verschwunden war?
Kamal machte eine ungelenke Bewegung in Richtung Versteck, doch die Beine wollten ihm nicht wie gewohnt gehorchen.
Der kleine rote Kater, den die Mädchen ohne Erlaubnis angeschleppt hatten, kam neugierig durch die offene Tür gelaufen und geriet ihm dabei in den Weg. Er bekam einen harten Tritt ab, der ihn ein ganzes Stück zur Seite schleuderte, was Kamal schon im nächsten Moment leidtat.
Was konnte ein unschuldiges Tier für den Aufruhr in seinem Innersten? Der Kleine hatte sich rasch in Sicherheit gebracht, doch um Kamal stand es noch schlimmer als zuvor. Wie von Sinnen riss er an seinem Gewand, um überhaupt noch Luft zu bekommen.
Wo war der Saphir?
Ein Stöhnen drang aus seiner Kehle, so rau, dass er selbst davor erschrak. Dann begann er Antonios Namen zu schreien, wieder und immer wieder, bis er vor Erschöpfung über der Werkbank zusammensank.
Gemeinschaftlich hatten sie jeden Winkel durchkämmt und das Unterste zuoberst gekehrt – doch der Hyazinth war und blieb verschwunden. Obwohl sie den Beutel mit dem Gold unversehrt an Ort und Stelle im Versteck gefunden hatten, war Antonios anfängliche Zuversicht inzwischen gänzlich verflogen und hatte tiefster Bedrückung Platz gemacht.
»Das hätte niemals geschehen dürfen«, murmelte er mit grauem Gesicht, als er wohl zum tausendsten Mal mit dem Besen vergeblich durch die Werkstatt fuhr, während er mit der anderen Hand gegen seine unentwegt laufende Nase anzukämpfen hatte. »Wieso hast du mich denn nicht gerufen? Ich hätte doch aufpassen können, wenn du schon unbedingt nach draußen musstest!«
»Weil du krank bist und Schonung brauchst!«, antwortete Kamal. »Ich bin einfach losgerannt, als Amirs verzweifelte Schreie ertönten. Ohne nachzudenken, was ich inzwischen natürlich zutiefst bereue. Aber wer kann sich denn so etwas schon vorstellen!«
Entmutigt ließ Antonio den Besen sinken.
»Es muss auf jeden Fall jemand gewesen sein, der dich heimlich beobachtet hat«, sagte er. »An einen Zufall kann ich nicht glauben – du vielleicht? Überleg noch einmal in aller Ruhe! Ist dir nicht vielleicht doch irgendetwas aufgefallen? Auch die
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