Die Nacht von Granada
winzigste Einzelheit könnte wichtig sein.«
»Die Gasse war auf einmal schwarz vor Menschen«, sagte Kamal tonlos. »Wenn du so willst, könnte jeder aus dem Viertel es gewesen sein – jeder!«
»Wie lange genau warst du draußen?« Auch diese Frage hatte Antonio mindestens schon ein Dutzend Mal gestellt.
»Nur ein paar Augenblicke.« Kamal klang gereizt. »Aber das hab ich dir doch alles schon haarklein erzählt. Da war dieses Durcheinander auf einmal, die vielen, vielen Leute … Frauen, Kinder, ein paar Männer … sie haben alle laut geschrien. Für einen Lidschlag glaubte ich sogar, Rashid in der Menge laufen zu sehen …«
»Rashid?«, fiel Antonio ihm ins Wort. »Kannst du dir vorstellen, dass er möglicherweise den Stein …«
»Das nimmst du sofort zurück!«, sagte Kamal drohend.
»Aber Rashid wusste von dem Hyazinth, das hast du mir selbst erzählt. Als Einziger!«
»Abgesehen von uns beiden sowie Gaspar und seinem Herrn Neffen!«, schrie Kamal. »Wenn das überhaupt reicht! Wer kann schon wissen, wen dieser elende Christenhund sonst noch eingeweiht hat? Mein Junge jedenfalls hat nichts damit zu tun. Inzwischen bin ich sicher, dass ich mich getäuscht habe. Rashid war gar nicht da. Ich hab mir bloß eingebildet, ihn zu sehen, weil ich ständig an ihn denken muss.«
»Der verschwundene Hyazinth besitzt ungeheuren Wert. Ihn in Gold oder möglicherweise Waffen für einen geplanten Aufstand zu verwandeln, könnte …«
»Hör sofort damit auf!«, schrie Kamal und erhob drohend seinen Arm, als wollte er im nächsten Moment zuschlagen. »Ich dachte, du bist mein Freund – und der meines Jungen!«
»Das bin ich doch auch«, sagte Antonio. »Gerade deshalb sollten wir ja den Mut aufbringen, alles in Erwägung zu ziehen.«
»Aber doch nicht, dass Rashid ein Dieb ist!«
»Wenn er nicht da war, kann er es ja auch nicht gewesen sein«, räumte Antonio ein. »Ich bin in meinen Befürchtungen wohl zu weit gegangen. Aber wir müssen gründlich nachdenken, Kamal. Nur so können wir unseren Hals vielleicht doch noch aus der Schlinge ziehen. Der Stein muss sich wieder auffinden lassen. Allein darum geht es!«
»Mir fehlt die Kraft dazu«, flüsterte der Steinschlei fer. »Hätten wir uns doch niemals auf diesen schrecklichen Handel eingelassen! Sieh mich bloß an – meine Hände zittern, als ob ich uralt wäre, und ich bin schweißnass. Wie ich meine schier endlose Schicht auf der Alhambra überstehen soll, weiß Allah allein. Aber wenn ich dort heute nicht auftauche, wird Emilio nur noch misstrauischer. Was sollen wir tun?«
»Vor allem die Nerven bewahren! Du gehst jetzt erst einmal nach drüben, wäschst dich, ziehst ein frisches Gewand an und isst etwas …«
»Nicht einen Bissen werde ich hinunterbekommen!«
»Das ist ein Befehl! Keiner von uns darf jetzt Schwäche zeigen, das ist das Allerwichtigste. Wir werden eine Lösung finden. Wir müssen eine Lösung finden!«
Antonios scharfe Stimme klang Kamal noch im Ohr, als er sein Haus betrat, schlurfend wie ein alter Mann.
Saida lief ihm strahlend entgegen.
»Ich habe gute Neuigkeiten«, rief sie. »Sehr gute sogar. Stell dir vor, unser Junge war vorhin hier! Es geht Rashid gut und er ist bei bester Gesundheit, doch er muss sich weiterhin versteckt halten, damit die Rotkappen ihn nicht in die Finger bekommen. Von der Taufe am Sonntag hab ich ihm besser nichts erzählt, aber ich hab ihm das Säckchen mit der Medizin mitgegeben, das der Imam ihm durch dich hat zukommen lassen …«
Erst jetzt schien sie seinen elenden Ausdruck zu bemerken.
»Was ist mit dir? Bist du krank? Du siehst ja zum Fürchten aus!«
»Du musst jetzt sehr stark sein, Saida«, sagte er. »Eigentlich wollte ich dich unbedingt aus der leidigen Geschichte heraushalten, doch dazu ist es jetzt zu spät. Wirst du mir zuhören?«
Saida nickte hastig.
»So schlimm?«, sagte sie leise.
»Schlimmer!«, versicherte Kamal. »Du bist mit einem Dummkopf verheiratet, das solltest du als Erstes wissen. Dem größten Dummkopf von ganz Granada.«
»Du bist alles andere als ein Dummkopf!«, widersprach sie. »Und ich gehöre zu dir, was immer auch geschehen sein mag.« Sie nahm seine Hand und zog ihn weiter.
Nuri, die ihre Eltern gerade noch hinter der Tür verschwinden sah, stutzte kurz, dann reagierte sie sofort.
Der Vater hatte wie ein Greis ausgesehen, die Mutter aufgelöst gewirkt. Bevor sie ihr wieder alles verschweigen konnten, schlüpfte Nuri behände in die winzige Kammer neben
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