Die Nacht von Shyness
und setze mich auf einen Betonstein mit Blick auf den Abgrund.
Das Feuerzeug hat Ortolan Gram zu seinem achtzehnten Geburtstag geschenkt. Unten sind ihre und seine Initialen eingraviert, so klein, dass es gar nicht auffällt.
Es ist das Einzige, was ich noch von Gram habe. Kurz nach seinem Tod hat Mum alle seine Sachen aus der Garage geräumt. Einiges hat sie für wohltätige Zwecke gespendet, den Rest hat sie weggeschmissen. Vermutlich hat sie in Grams Wohnung dasselbe gemacht. Nur eine Handvoll Fotos hat sie behalten. Und das Feuerzeug. Das hat sie mir gegeben, als Dad nicht in der Nähe war. Es war merkwürdig, dass sie das getan hat, wo sie doch militante Nichtraucherin ist.
Im Tunnel ist kein bisschen Licht. Hin und wieder zieht ein kalter Luftschwall hindurch. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das Pärchen angefangen hat sich auszuziehen,aber ich bin gar nicht peinlich berührt. Ich müsste jetzt stocksauer sein, ich müsste irgendwas tun, müsste schwören, mich an den Kidds, die mir das Feuerzeug geklaut haben, zu rächen, sie umzubringen, aber ich bin innerlich tot. Ich fühle mich so schwer, es würde mich nicht wundern, wenn ich mich nie mehr vom Fleck bewegen und selbst zu Beton werden würde.
Ich weiß nicht, wie lange ich da schon sitze, als ich mich frage, ob Wildgirl allein klarkommt. Ich zwinge mich aufzustehen und wieder in den Hauptraum zu gehen.
Am Eingang, wo sie zuletzt mit Paul gestanden hat, ist sie nicht. Ich laufe einmal durch den ganzen Club, einen säuerlichen Geschmack im Mund. Ich hätte mich nicht von Thom mitschleifen lassen sollen. Bestimmt ist sie wütend auf mich.
Schließlich entdecke ich sie mitten in der Traube der Tanzenden. Sie tanzt mit Leib und Seele, die Augen hat sie geschlossen und ihre Haare fliegen, während sie herumwirbelt. Sie stellt alle anderen in den Schatten.
Paul neben ihr vollführt seine üblichen Zuckungen, zwischendurch trommelt er ein bisschen in die Luft, die Haare kleben ihm vorm Gesicht. Beide grinsen und schwenken die Arme. Sieht so aus, als hätte ich mir ganz umsonst Sorgen gemacht.
Zögernd sehe ich zu, versteckt in der Menschenmenge. Man sieht, dass Wildgirl nicht für die Leute um sie herum tanzt. Die Musik durchströmt ihren Körper wie Elektrizität. Meine Übelkeit legt sich ein wenig, während ich Wildgirl zuschaue. Sie ist das einzig Gute in meiner Nacht.
Kurz darauf gehe ich von hinten zu ihr und drücke mein Gesicht nah an ihren warmen Nacken. Sie riecht nach Vanille und Bier. Eine Sekunde lang stelle ich mir vor, sie abzulecken, von der Biegung ihres Halses bis zum Ohr.
»Tut mir leid«, sage ich ihr stattdessen ins Ohr. Tut mir leid, dass ich mich von Thom hab mitschleifen lassen, und ja, auch, dass ich mir vorgestellt habe, ihren Hals zu lecken.
Wildgirl wirbelt herum, ohne ihren Tanz zu unterbrechen, und sie weicht auch nicht zurück. Stattdessen fasst sie mich bei den Schultern und hüpft vor mir herum. Sie scheint sich zu freuen, dass ich da bin.
»Entschuldige dich nicht andauernd!«, brüllt sie. Auf ihrer Stirn glänzt der Schweiß.
Ich bin kein großer Tänzer, jedenfalls nicht, bevor ich zehn Bier oder so intus habe. Aber lieber ans Tanzen denken als an das Feuerzeug. Ich gehe dichter an Wildgirl heran und versuche mich ihren Bewegungen anzupassen, versuche den Rhythmus zu erspüren und bete, dass meine Füße das Richtige tun. Beim Gitarrespielen fällt manchmal alles von mir ab. Dann spiele ich, ohne darüber nachzudenken, was meine Finger gerade machen. Ich weiß, dass das auch beim Tanzen der Trick ist, aber so weit bringe ich es nie.
Paul ist überrascht, als er mich auf der Tanzfläche sieht, dann wendet er uns, dezent, wie er ist, den Rücken zu.
»Tut mir leid, dass ich dich allein gelassen hab.«
»Macht gar nichts. Paul ist cool. Wir haben nett gequatscht.«
Es ist das erste Mal, dass ich die Wörter ›Paul‹ und ›cool‹ in einem Satz höre.
»Worüber habt ihr zwei denn geredet?«
»Och, nichts Besonderes. Er hat nur erzählt, dass die Long Blinks die beste Band aller Zeiten ist und dass ihr eines Tages weltberühmt werdet.«
Weltberühmt klingt eher nach Thom, aber es stimmt, dass Paul und Thom beide mehr Zukunft für die Band sehen als ich. Wenn ich die Wahl hätte, mit welchem meiner Kumpel ich Wildgirl allein lasse, würde ich mich ganz klar für Paul entscheiden. Thom kann ein Albtraum sein; immer muss er alle, die ihm über den Weg laufen, beeindrucken. Und je mehr er getrunken hat, desto
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