Die Nacht von Shyness
schlimmer wird es. Vorhin hat er eindeutig versucht, Wildgirl in den Ausschnitt zu gucken.
»Willst du die Wahrheit wissen?« Ich lege ihr eine Hand in den Nacken und spüre ihre Wirbel unter meinen Fingern. »Wir sind echt Scheiße. Ich singe schief, Paul kommt andauernd aus dem Takt und Thom kann kaum drei Noten spielen. Wir werden nirgendwo berühmt. Wir machen das nur, um die Zeit totzuschlagen.«
»Aber du kannst darüber lachen.« Wildgirl sieht mich mit ihren schlangengrün geschminkten Augen an. Man sollte meinen, dass ich, nachdem ich dem Mädchen, das ich unbedingt beeindrucken will, gestanden habe, was für eine Niete ich bin, am liebsten nach Hause gehen und mit dem Kopf gegen die Wand donnern würde. Stattdessen bin ich erleichtert. Es durchfährt mich heiß und kalt.
Und dann heule ich.
Ich jaule das Dach an wie eine kreiselnde frisierte Bombe, mit lauter Krächzern. Ich habe die Arme weit ausgestreckt und heule wie ein Fliegeralarm. Ein Heulen ist wie ein Song. Beides lässt sich nicht planen, es kommt einfach von selbst, von irgendwoher, ich weiß es selbst nicht. Und dann steigt etwas anderes aus der Tiefe empor, etwas Schwarzes mit Zacken. Stellt euch vor, eure schlimmsten Gefühle kämen an die Oberfläche. Stellt euch vor, Rasierklingen auszuhusten. Stellt euch vor, ihr könntet nichts dagegen tun, dass der Schmerz rauskommt, und wüsstet nicht, wann er aufhört.
Wildgirl lacht und jauchzt die Decke an. Sie hört die Rasierklingen nicht. Die Leute um uns herum grölen, klatschen und stoßen die Fäuste in die Luft. Meine Kehle brennt. So fühlt es sich immer an: Schmerz und Erleichterung zugleich.
Ich ziehe Wildgirl an mich, damit sie nicht merkt, wie wacklig ich mich auf einmal fühle und dass ich vielleicht weinen muss.
»Das ist der Grund, weshalb du nicht weggehst, oder?«
»Was?«
»Das hier! Das Little Death, die Leute hier, das ist echt cool. Ich versteh jetzt, weshalb du Shyness nicht verlässt und woanders hinziehst.«
»Im letzten Sommer hab ich einmal tagsüber die Grenze zu Panwood überschritten.« Ich will nicht, dass sie mich anschaut, deshalb spreche ich ihr ins Ohr. »Und ich dachte, ich schmelze gleich, so grell war das Licht.«
In Wahrheit gibt es so viele Gründe, weshalb ich Shynessnicht verlasse, weshalb ich hier festsitze und nicht wegkann, dass ich gar nicht wüsste, wo ich anfangen sollte. Weiß ich es überhaupt selbst? Ich lege die Wange an Wildgirls Haare. Da sehe ich etwas über ihre Schulter hinweg und beiße mir so fest auf die Lippe, dass ich Blut schmecke.
Auf der anderen Seite der Tanzfläche steht der Gnom und schlägt mit seinem Blick eine Schneise in die Menge. Ich starre ein paar Sekunden lang zurück, bevor ich akzeptiere, dass er wirklich hier ist. Was will er noch von mir? Ich schaue hoch zur Decke und dann hinunter zu unseren Füßen. Mir hat mal jemand erzählt, dass das Little Death ein elektrisches Dach hat, damit die Koboldäffchen nicht von oben runterspringen können, aber sicher ist sicher. Obwohl keine anderen Kidds auf der Tanzfläche sind, ziehe ich Wildgirl weg. Alle meine Instinkte sagen mir, dass ich mich vom Gnom fernhalten muss. Nicht denken. Einfach machen.
»Was ist?«, fragt sie.
»Kidds«, sage ich.
Sie zieht die Augenbrauen hoch und versucht, über die Leute hinweg etwas zu sehen. »Wo? Sind es dieselben wie vorhin?«
Ich zerre sie weiter mit mir. »Es ist der Gnom.«
»Wie ist der hier reingekommen? Ist er nicht zu jung?«
»Wahrscheinlich gibt es einen Hintereingang. Los, wir hauen ab.«
Thom unterhält sich mit einem Mädchen am Rand der Tanzfläche. Ich laufe mit gesenktem Kopf an ihm vorbei. Rick Markov sitzt immer noch an dem Tisch,umringt von seiner Clique und lauter leeren Flaschen. Auf dieser Seite des Clubs gibt es einen kurzen Tunnel, von dem links und rechts weitere Räume abgehen. Ich werfe einen Blick über die Schulter, um zu überprüfen, ob der Gnom uns folgt, aber sein blonder Schopf ist immer noch auf der Tanzfläche zu sehen. War er uns die ganze Zeit auf den Fersen oder hat ihm jemand einen Tipp gegeben?
Am Ende des Tunnels biegen wir links ab. Bei der nächsten Tür schiebe ich den Vorhang zur Seite, damit Wildgirl hindurchkann. Ein Nebelhauch wabert uns entgegen.
»Willkommen im Traumland. Hier nervt uns keiner.«
Die Nebelmaschine ist in vollem Gange, Laserstrahlen schießen durch den Dunst. Obwohl ich im Dunkeln gut sehen kann, ist es schwer, etwas zu erkennen. Ein Ort der Illusionen, ganz
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