Die Nacht von Shyness
gutmacht. Er war ja von Anfang an nicht gerade gesprächig und bestimmt sind wir beide wahnsinnig nervös. Solange wir zusammenhalten, kann uns da drin nichts passieren.
Ich packe die geheimnisvollen Kräuter in den Rucksack.
Wenn wir erst mal auf dem Gelände von Orphanville sind, haben wir womöglich keine Zeit mehr zum Reden, und ich möchte noch das eine oder andere erfahren, bevor wir den letzten Zaun hinter uns lassen.
»Was weißt du noch alles über die Kidds?«
»Nicht viel mehr als das, was Blake uns erzählt hat.«
»Aber du lebst doch schon seit drei Jahren so. Du musst mehr wissen.«
»Die Kidds gibt es noch nicht so lange. Sie haben sich erst vor ungefähr zwei Jahren organisiert.«
»Haben sie deiner Familie irgendwas getan? Sind deine Eltern deshalb weggezogen?«
Erst als ich die Worte ausgesprochen habe, wird mir klar, dass ich dem Thema Gram damit vielleicht zu nahe komme. Vielleicht hatten die Kidds etwas mit seinem Tod zu tun. Wolfboy hört einen Moment damit auf, den Zaun zu durchtrennen, aber er sieht mich nicht an.
»Meine Familie ist … also, sie sind aus vielen Gründen weggezogen. Sie haben gesagt, es ist, weil alle ihre Freunde weggegangen sind und die Läden dichtmachen und die Immobilienpreise abgestürzt sind. Aber das war nicht der Grund. Kennst du das, dass ein Ort auf einmal verflucht ist? Wenn Sachen passiert sind, die so mit dem Ort verwoben sind, dass man es nicht mehr schafft …« Wolfboy verstummt, als würde er nicht so ganz das sagen, was er eigentlich will.
»Ja, ich weiß, was du meinst.« Ich verschränke die Finger und muss mich sehr zurückhalten, um ihn nicht zu unterbrechen.
Schließlich redet er wieder. Ich weiß wirklich, was er meint. Es müssen nicht unbedingt schlechte Erinnerungen sein, mit denen ein Ort behaftet ist. Mike und ich haben uns immer in dem Schuppen auf dem Dach unseres Hauses versteckt. Für uns war er ein Clubhaus, obwohl wir eigentlich gar keinen Club hatten. Aber es war ein Ort, an dem wir einander unsere Geheimnisse erzählten und rauchten. Oder Mike hat geraucht und ich hab zugeguckt, weil ich den Geschmack eklig fand. Mike hatte immer größere Geheimnisse als ich. Seit er weggezogen ist, bin ich nicht mehr im Schuppen gewesen.Ich kann nicht mal auf das Dach gehen, ohne dass sich mir die Brust zusammenschnürt.
Ich habe seit Jahren nicht an Mike gedacht, komisch, dass ich heute Abend so oft an ihn denken muss. Eines Tages ist er aus Plexus verschwunden, ohne eine Telefonnummer oder seine neue Adresse zu hinterlassen. Mit zwölf hat man nicht so viele Möglichkeiten, jemanden ausfindig zu machen. Damals dachte ich, ich würde ihm nie verzeihen, dass er mich im Stich gelassen hat. Aber jetzt frage ich mich, wie es ihm ergangen sein mag. Wenn wir uns jetzt über den Weg laufen würden, könnten wir dann wieder Freunde werden?
Wolfboy ist so still geworden. Unser Gespräch ist wohl zu Ende. Immerhin war es ein Anfang. Das Schlupfloch im Zaun ist fast fertig. Seine dunklen Haare kringeln sich in seinem blassen Nacken. Eine Brise zischt über uns hinweg. Die Zange macht knips. Ich schaue hoch. Da ist der Mond, voll und rund wie ein großes Auge.
Als Wolfboys Stimme sich in den Moment schleicht, ist sie kaum ein Flüstern über dem raschelnden Gras. »Wenn du die Wahrheit wissen willst: In unserer Familie ist etwas Schlimmes passiert, aber das hat nichts mit der Dunkelheit zu tun. Mein Bruder. Gram. Er war fünf Jahre älter als ich. Vor vier Jahren hat er sich umgebracht.«
Wolfboy macht sich jetzt nicht mehr am Zaun zu schaffen, aber er kniet immer noch davor. Von hinten sieht er unendlich niedergeschlagen aus. Das ist die Wahrheit, die ich von ihm hören wollte, aber jetzt, da sie ausgesprochen ist, würde ich es am liebsten ungeschehen machen.
»Es lief schon eine ganze Weile schlecht. Mit meiner Familie, mit Gram. Er hatte seit Jahren nicht mit meinem Vater geredet, und mit meiner Muter hat er nur alle paar Monate mal telefoniert. Nie war er mit ihnen einer Meinung. Er hat sich von seiner Freundin getrennt und sie ist ins Ausland. Sie waren zusammen, seit sie sechzehn waren, und keiner wusste, weshalb sie sich gestritten hatten und wieso sie weggegangen ist.«
Wolfboy wendet sich zu mir. In seinen Augen sind keine Tränen; sie sind dunkel, unergründlich und leer.
Als Erstes möchte ich fragen: Wie hat er es getan? Das ist immer das Erste, was man wissen will, aber auch das Dümmste. Ich halte die Worte auf, bevor sie aus
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