Die Nacht von Shyness
Gebäude. Erst will ich nicht weiter, aber dann folge ich ihm und versuche nicht zu stolpern oder zurückzubleiben. Mein Atem geht keuchend und ich habe ein Rauschen in den Ohren. Die Welt ist verschwommener Beton. Ein weiteres Hochhaus blitzt auf. Wir kommen an einem unordentlichen Haufen Brennholz und an demolierten Fahrrädern vorbei. Bei Nummer acht gehen wir wieder auf die Knie und kriechen weiter.
»Was hast du vor?«
, bringe ich heraus. Ich kriege nicht genug Luft in die Lunge.
»Komm. Ich dachte, ich hätte was gesehen.«
»Was denn?«
Ich fasse ihn am Arm und versuche ihn zurückzuhalten, aber er ist zu stark. Mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm zu folgen.
Wolfboy späht um die nächste Ecke, dann winkt er mich weiter. Hier ist es nicht so dunkel, wie ich dachte. Das diffuse orange Licht von den wenigen Laternen mildert die Nacht.
Hinter Nummer acht macht das Asphaltband eineRechtskurve und verläuft zwischen den Gebäuden, bis es inmitten von vier Hochhäusern endet. Zwischen dem Weg und uns befindet sich in fünf Metern Entfernung ein einzelner Container. Der schwarze Wagen steht am Ende des Weges, die Scheinwerfer immer noch eingeschaltet. Die Türen gehen auf, eine vorn, eine hinten, und zwei Männer steigen aus. Ich schaue angestrengt zu den Gebäuden hinter dem Wagen. Ich bin mir nicht ganz sicher, aber sie sehen so aus …
Wolfboy schleicht sich noch näher an die Ecke.
»Halt!«, flüstere ich halblaut. »Wo willst du hin?«
Er huscht um die Ecke, wo praktisch nichts zwischen ihm und dem Wagen ist; wir könnten gesehen werden und auffliegen, und wer weiß, was dann mit uns passiert.
Scheiße.
Ich stecke den Kopf um die Ecke und rechne damit, Wolfboy in Deckung vor dem Container zu sehen. Aber da ist er nicht. Hinter dem Container sind die beiden Männer, sie treffen sich vor dem Wagen. Sie haben Anzüge an und sehen aus wie Geheimagenten – nicht dass ich schon mal einen in echt gesehen hätte.
Ich weiche ein paar Schritte zurück. Auf keinen Fall gehe ich Wolfboy jetzt nach und ich bleibe auch nicht hier, um zu sehen, ob er so blöd ist, zu dem Wagen zu laufen. Ich weiche also weiter zurück und biege um noch eine Ecke. Kann sein, dass ich gleich kotzen muss. In meinem Kopf ist ein Wirrwarr von Gedanken, deren Fäden sich überall auflösen. Vielleicht hätte ich Wolfboy nicht überreden sollen. Seine Familie hat schon jemanden verloren und es hat sie zerrissen. Angenommen, heute Nacht würde ihm etwas zustoßen?
Auf der anderen Seite von Nummer acht finde ich eine kleine Nische mit einem Sicherungskasten. Der Metallkasten ist in die Wand geschraubt und darunter ist gerade so viel Platz, dass ich mich hinsetzen kann. Es ist nicht das allerbeste Versteck, aber für ein paar Minuten wird es gehen.
Ich schlüpfe in die Nische und ziehe die Knie an die Brust. Ich versuche meinen Atem, mein Herz und meine Hände zur Ruhe zu bringen. Das ist die Strafe dafür, dass ich mir eine Nacht gewünscht habe, die den Tag ausradiert, eine Nacht mit dunklen Geheimnissen, Losungsworten und Verfolgungsjagden durch die Gassen. Die Geister, die ich rief. Ich schließe die Augen.
Orphanville kommt mir zu echt vor und gleichzeitig völlig unwirklich, wie ein Traum. Hier gehen Dinge vor sich, die ich kaum verstehe. Diese Männer könnten alles Mögliche in ihrem Kofferraum haben: Gewehre, Augenbinden, Seile oder Ziegelsteine. Das ist jetzt kein Kinderspiel mehr. Wir könnten in Orphanville umkommen und niemand würde je erfahren, was uns zugestoßen ist.
Dann wären die Mädchen in der Schule meine geringste Sorge.
Als Schritte an mir vorbeischleichen, reiße ich die Augen auf. Ich verschwinde in der Wand. Die Schritte kommen zurück.
Wolfboy lässt sich neben mich plumpsen, keuchend und triumphierend. »Wusste ich’s doch, dass mit dem Wagen etwas nicht stimmt!« Er sieht mich an und erwartet irgendeine positive Reaktion, aber von mir kommt gar nichts. »Die beiden Typen sind ausgestiegenund haben mit ein paar Kidds geredet. Die Kidds haben ihnen etwas in einer Plastiktüte übergeben, dann sind sie alle zusammen ins Auto gestiegen. Ich dachte, sie würden wegfahren, aber sie sind dageblieben. Ich bin näher ran, konnte aber nichts erkennen. Soweit ich weiß, sind sie immer noch da. Ich wette, sie haben Koffer voller Geld da drin.«
Wieder schaut er mich an, ich ignoriere ihn.
»Wie im Kino …« Er starrt mich regelrecht an. Sein Kopf passt so gerade unter den Schaltkasten. »Was ist in dich
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