Die Nacht von Shyness
meinem Mund schlüpfen. »Es ist Grams Feuerzeug, stimmt’s?«
, sage ich stattdessen, und er nickt.
»Gram hat die Trennung schwer zu schaffen gemacht. Es ging ihm nicht gut. Wir wussten, dass er zu viel trank und für sich blieb. Er hatte immer so eine Wut im Bauch. Aber keiner hat es kommen sehen. Es lief schlecht, aber dass es so schlecht lief, wussten wir nicht.«
Das scheint noch nicht das Ende der Geschichte zu sein, doch Wolfboy wirkt erschöpft. An dieser Stelle müsste ich etwas Tröstliches oder Kluges sagen oder wenigstens eine Bemerkung darüber machen, wie beschissen das alles ist. Aber was soll ich sagen? Ich sitze nur bei ihm und der Wind wirbelt um uns herum. Ich hoffe, dass Wolfboy mein Mitgefühl spürt, auch wenn ich ihn nicht berühre und nichts sage. Ich bin unsagbar traurig. Jetzt verstehe ich, weshalb er die Geschichte für sich behalten hat.
Wolfboy hat sich entschieden, mit den Erinnerungenan seinen Bruder zu leben, und seine Eltern haben sich entschieden, davor wegzulaufen. Aber sie haben die Erinnerungen bestimmt nicht zurückgelassen. Man kann um die halbe Welt reisen und der Schmerz ist immer noch in einem drin.
Nach einer Weile beugt Wolfboy sich vor und biegt den Draht mit beiden Händen so weit wie möglich nach oben. »Geschafft.«
19
Zwischen dem zweiten Zaun und dem ersten Gebäude müssen wir etwa fünfzig Meter freie Fläche überqueren. Ich krieche wie ein Soldat, der Rucksack ist eine störende Ausbuchtung auf meinem Rücken. Wildgirl bleibt zurück. Ich warte einen Moment, um sicherzugehen, dass sie mir nachkommt. Sie kriecht vorwärts, verdreht jedoch die Augen, sie ist nicht glücklich mit der Situation. Die Ukulele rutscht ihr immer auf den Bauch und sie schiebt sie immer wieder genervt zurück.
Meine Füße wollen nicht weiter. Ich habe keinen Bezug zu der Aufgabe, die mich erwartet. Ich könnte mich dafür ohrfeigen, dass ich ihr so viel erzählt habe. Die Erwachsenen sagen immer: Red dir alles von der Seele. Sprich darüber. Danach geht es dir viel besser. Aber nach meiner Erfahrung stimmt das überhaupt nicht. Ich bin bedrückter denn je.
Es dauert ein paar Minuten, bis wir Deckung haben. Blake hat uns vor Fallen gewarnt, deshalb untersuche ich den Boden vor jedem Schritt nach Auffälligkeiten. Ich erreiche das erste Gebäude und hocke mich an die Wand aus Schlackenstein. Auf dieser Seite sind weder Fenster noch Türen. Das nächste Licht befindet sich am Fuß eines der Hauptgebäude, ein ganzes Stück entfernt. Dieses Gebäude hier ist ein kleiner, nur knapp vier Meterlanger Schuppen. Ich lausche angestrengt. Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund. Etwas näher schwingt ein Tor im Wind hin und her.
Wildgirl schafft es schließlich bis zu mir und hockt sich neben mich. Sie reibt sich die Ellbogen und verzieht das Gesicht. Trockenes Gras hängt an ihrem Pulli und in ihrem Haar. Ihre Hände sind genauso schmutzig wie meine.
»Heute wird nicht mehr gekrochen, das ist eine Vorschrift. Ich bin doch keine Schnecke.«
Ich könnte erwidern, dass die Ukulele stört und geopfert werden sollte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Wildgirl darauf eine entsprechende Antwort hätte. Ich schleiche zur nächsten Ecke des Gebäudes. Um uns herum sind vier weitere schuppenartige Gebäude und eine asphaltierte Fläche, die aussieht wie ein Parkplatz.
Wir haben es getan. Wir sind in Orphanville. Ich kenne niemanden, der schon mal auf dieser Seite der Zäune war. Jetzt müssten wir uns konzentrieren, aber … »Ich bin durcheinander«, sage ich. Ich bin durcheinander, weil die Stimmung zwischen uns auf einmal so gekippt ist. Und weil ich ihr so viel von mir erzählt habe und sie kein Wort dazu gesagt hat.
»Wieso?«
Wildgirl schiebt das Kinn über meine Schulter und versucht zu sehen, was ich sehe.
»Soll ich dich Nia oder Wildgirl nennen?«
»Wildgirl natürlich, ich sage doch auch nicht Jethro zu dir, oder?«
Ich sehe sie an. Ihr Lippenstift ist ab und der Lidschatten ist verschmiert. Zwischen ihren Augenbrauen ist eine kleine Falte, die vorher nicht da war. Das istmeine Schuld. Sie hatte darauf spekuliert, heute Nacht einige angesagte Clubs und vielleicht ein paar schräge Nachtgestalten zu Gesicht zu bekommen. Stattdessen hab ich ihr meine rührselige Geschichte aufgeladen.
Es tut weh, nicht das vertraute Gewicht von Grams Feuerzeug in der Tasche zu spüren. Ich finde es immer noch tröstlich, etwas zu berühren, das er so oft in der Hand hatte. Mum wäre außer
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