Die Nacht von Shyness
die Milchglasfenster auf den Etagen fällt schwaches Mondlicht herein.
Seite an Seite gehen wir hoch, ohne ein Wort zu sagen. Wildgirl hat die Mistgabel in die Gürtelschlaufe gesteckt. Ich gewöhne mich an das Treppensteigen undsehe hin und wieder zu ihr rüber. Manchmal fällt ein blasser Mondstrahl auf ihr Gesicht. Keiner von uns ist noch mal auf das Gespräch im Tunnel zurückgekommen. Es ist, als hätte es nie stattgefunden. Vielleicht bleibt das, was unter der Erde geschieht, einfach unter der Erde.
»Du bist meilenweit weg. Woran denkst du?«
, frage ich.
»Ich hab gerade an Rache gedacht.«
»Rache an den Kidds?«
»Nein. Nicht an den Kidds.«
»An wem denn?«
, frage ich, aber sie gibt keine Antwort.
Das Schlimme war, dass man niemandem die Schuld an Grams Tod geben konnte außer ihm selbst, und er war ja nicht mehr da. Ich weiß, dass meine Eltern nicht mehr mit Ortolan gesprochen haben, jedenfalls mein Vater nicht. Ich persönlich hätte die Schuld näher an zu Hause gesucht.
»Was glaubst du, auf welcher Etage wir jetzt sind?«
Wildgirl keucht, ihre Wangen sind rot.
»Jetzt kommt die siebte«, japst sie. »Ich hab mitgezählt.«
Ich bleibe stehen. »Hier wohnt der Gnom. Warum schauen wir da nicht mal schnell nach?«
»Zu gefährlich. Wir wissen, dass sie vor Kurzem auf dem Weg nach Hause waren, wir würden ihnen also direkt in die Fänge gehen.«
»Wir wissen aber nicht, ob es die Schutzräume auch wirklich gibt. Wenn wir die Kidds zufällig mit dem Feuerzeug erwischen, können wir verhandeln.«
Natürlich würde der Gnom das Feuerzeug auf keinen Fall für eine Tüte banaler Schokoriegel rausrücken. Aber wir könnten ihnen etwas anderes anbieten, ganz gleich, was Blake meint. Ich kenne Leute in Shyness, die für einen gewissen Preis alles beschaffen können, was das Herz begehrt. Ich könnte auch selbst meine Dienste anbieten.
»Deine Freundin Blake wird ja wohl auch versucht haben, mit ihnen zu diskutieren. Und du weißt, wie es ihr ergangen ist.«
Wildgirl geht weiter nach oben, ihre Stiefel sind viel zu laut auf den Betonstufen.
Ich gebe es auf. Ich müsste eigentlich wissen, wie Shyness funktioniert, aber ich merke, dass wir uns auf lauter Informationen aus zweiter Hand verlassen. Von Leuten, denen man vielleicht vertrauen kann, vielleicht aber auch nicht. Möglicherweise sollten wir uns das ganze Theater schenken und das nächste Kidd fragen, wo der Gnom ist. Uns direkt mit ihm auseinandersetzen.
Als wir am Ende der Treppe angekommen sind, schaue ich hinunter auf alle Stockwerke, die wir hochgestiegen sind. Wenn wir schnell wegmüssen, ist das unser Weg. Ich versuche den Abstand zwischen den einzelnen Treppenläufen abzuschätzen. Ich könnte mich über das Geländer schwingen und immer einen halben Treppenlauf auf einmal nehmen, aber ich weiß nicht, ob Wildgirl das schaffen würde.
Sie steht vor der letzten Tür. »Wenn wir hier durchgehen, ist rechts der Aufzug. Links führt eine Treppe aufs Dach, genau wie in dem anderen Haus. In denHauptflur kommen wir durch eine Glastür hinter dem Aufzug rechts.«
Ich stelle es mir bildlich vor und versuche es im Gedächtnis zu verankern.
»Können wir?«
Ich zwänge mich an Wildgirl vorbei und drücke mich mit meinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Wenn sie schon sagt, wo es langgeht, kann ich wenigstens als Erster einstecken, falls es dazu kommt.
Zwei UV-Lampen an jedem Ende des Flurs tauchen den zwölften Stock in violettes Licht. Ich schlage gegen den Schließmechanismus über der Glastür, damit sie offen bleibt. Irgendwer hat meterweise Isolierband in verschiedenen Farben zu einem Regenbogen auf den Boden geklebt. Ich gehe auf den Fußballen weiter, dabei stütze ich mich an der Wand ab. Wände und Decke sind schwarz gestrichen mit silbern leuchtenden Sternen.
Wildgirl folgt mir auf dem Fuß. Wir kommen rechts an einer Tür vorbei. Dahinter ist das leise Hämmern von Musik zu hören. Wildgirl hebt die Hand an die Klinke, doch ich schüttele den Kopf. Wir schleichen weiter.
Die nächste Tür, auf der linken Seite, ist verriegelt und mit einem Vorhängeschloss versehen. Ich könnte einen Schraubenzieher aus dem Rucksack holen und versuchen sie zu öffnen, aber ich glaube, es ist besser, wenn wir gucken, was es in den anderen Zimmern gibt.
Wildgirl legt ein Ohr an die nächste Tür und nickt. Sie geht ein paar Schritte zurück und ich öffne die Tür zu einem von Mondlicht durchfluteten Zimmer. Auf dem Boden liegen verknäulte
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