Die Nacht von Shyness
Jethro .«
»Ich hab doch gar nicht gesagt …«, setze ich an, dann verstumme ich. Diese Auseinandersetzung kann ich nicht gewinnen. »Ich versuche erst mal das Schloss zu knacken.«
»Nicht nötig«, sagt Wildgirl. Sie zieht ihren Pulli aus – ich korrigiere: meinen Pulli – und schleudert ihn durch die Stäbe. Er landet außer Reichweite auf der anderen Seite. Bei der Ukulele geht sie ein solches Risiko nicht ein. Die lehnt sie sorgfältig an die Wand.
Ihren rechten Arm und die Schulter bekommt sie mit Leichtigkeit hindurch. Ihr Kopf passt so gerade durchdie Lücke, dann die Hüften. »Uff«, keucht sie. Dann hat sie es tatsächlich geschafft. Sie zieht den Pulli wieder an, fasst das Gitter mit beiden Händen und macht sich über mich lustig. Ihre Haare stehen wild vom Kopf ab. »Na komm schon, Superman.«
Gram hat das immer mit mir gemacht: Er bat mich, das Eingangstor zu schließen, während er im Auto wartete. Wenn ich dann die Beifahrertür aufmachen wollte, um einzusteigen, fuhr er immer einen ganz kleinen Satz vor, gerade so viel, dass ich nicht reinkonnte. Dieselbe blöde Masche.
»Ich warte.«
»Da passe ich auf keinen Fall durch.«
»Dann kannst du froh sein, dass du mich hast.« Wildgirl beugt sich hinunter und betrachtet die Klinke und das Schlüsselloch. »Sie ist von dieser Seite blockiert. Jemand hat ein Stück Pappe oder so reingesteckt. Kannst du mir mein Schminktäschchen geben? Das ist in der Vordertasche deines Rucksacks.«
Ich finde eine zebragestreifte Kosmetiktasche und reiche sie ihr durch die Stäbe.
Mit einer Pinzette holt Wildgirl ein Stück Pappe aus dem Schloss, dann kramt sie wieder in ihrem Schminktäschchen. »Voilà.« Sie holt eine Haarnadel heraus und setzt sich im Schneidersitz, die Tasche im Schoß, vor das Schloss. Ich gehe den Gang in die Richtung zurück, aus der wir gekommen sind, und schaue in die Ferne. Nichts. Nur das Klopfen und Ächzen der Rohre.
»Jeden Moment«, sage ich. »Jeden Moment kann ein Schwarm gestörter Kinder durch die Öffnung kommen, aber lass dir nur Zeit.«
Wildgirl blickt nicht von ihrer Tätigkeit auf. Sie biegt die Haarnadel krumm.
»Wie alt ist Ortolans Kind?«
, fragt sie urplötzlich.
Ich blinzele. »Ich weiß nicht. Sie hat es im Ausland bekommen.«
»Und das war nach der Trennung von Gram oder? Und die war wie lange her?«
Ich durchforste mein Gehirn. Alles ist verschwommen. Nichts aus der Zeit damals kommt mir wirklich vor.
» Du hast doch ein Foto von dem Mädchen gesehen.« Ich schaffe es, die Gefühle aus meiner Stimme zu verbannen, aber Wildgirl schaut trotzdem auf. »Was schätzt du?«
»Vielleicht vier oder fünf. Und wie lange ist es her, dass Ortolan und Gram sich getrennt haben?«
»Vielleicht fünf Jahre …« Die Worte sind schwerfällig in meinem Mund. Gedanken schlängeln sich auseinander, glatt und langsam wie Aale.
»Und fast genauso lange habt ihr alle im Dunkeln gelebt.«
Unsere Blicke treffen sich, dann schaut sie wieder nach unten. Sie steckt die Haarnadel in das Schloss, zieht sie wieder heraus und biegt sie erneut zurecht.
Wenn die eigene Freundin von einem anderen schwanger wird, ist man bestimmt ziemlich außer sich. Man muss sich trennen und alle Zukunftspläne lösen sich in Luft auf. In so einer Situation kann es nicht viel geben, für das es sich zu leben lohnt.
Gram war erst neunzehn. Nächstes Jahr bin ich so alt, wie er war, als er starb. Und ein Jahr später werde ichälter sein, als er es je war. Ich dachte immer, er wäre ein Mann und wüsste alles, aber er war kaum erwachsen, als er mit all diesen Problemen fertig werden musste. Ich kann kaum etwas Schwierigeres bewältigen als essen und schlafen.
»Meine Mutter hat mir nie erzählt, wer mein Vater ist«, sagt Wildgirl. »Es könnte jeder sein. Im besten Fall waren sie jung und er hatte Schiss. Meine Mutter hat es nicht gepackt abzutreiben und er hat es nicht gepackt, Vater zu sein. Also ist er abgehauen. Hat sich geweigert, irgendwas mit uns zu tun zu haben. Ich meine, mit mir.«
Wildgirls Arme hängen herab, ihre Schminktasche und das Werkzeug liegen vor ihr auf dem dreckigen Boden. Ihre Augen sind groß und feucht.
»Im schlimmsten Fall«, antworte ich, »hat sie ihn weggeschickt, weil sie nicht wollte, dass er etwas damit zu tun hatte.« Aber ich denke an Ortolan, nicht an Wildgirl, und in Gedanken addiere und subtrahiere ich.
Wildgirls Gesicht ist schmerzverzerrt. Bestimmt sehe ich genauso aus, aber ich wollte nicht gemein
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