Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Plattform der Verladestation ins Meer zu springen – es war Februar –, oder zu den Franziskanern von La Verna zu gehen, wohin ihr eine Tante vor vielen Jahren vorausgegangen war.
Als sie sagte: " Tesoro , wir bekommen ein Baby", hatte Vieri lange gebraucht, um den Sinn ihrer Worte zu erfassen. Das lag nicht nur daran, dass Paolas Schluchzen sie immer wieder unterbrach oder dass ihm Begriffe wie Baby, Bikini oder Juke-Box nicht geläufig waren. Ehe und Familie waren stets Dinge gewesen, die anderen vorbehalten waren, und die Leichtigkeit, mit der man offenbar ein Kind zeugen konnte, bestürzte ihn. Schon sah er sich für ein paar Lire am Tag wieder im Steinbruch arbeiten, sah sich wie Sandro jeden Samstag betrunken von der rusina in eine schäbige Mietskaserne zurückkehren. Der Abschluss seines Studiums, die Zukunft, die er sich ausgemalt hatte, rückten plötzlich in weite Ferne. Und doch dachte er keinen Augenblick daran, Paola zu verlassen und sich der Verantwortung, deren Last er übermächtig spürte, zu entziehen. Auch über Abtreibung sprachen sie kein einziges Mal.
Das Kind, das in Paolas Bauch heranwuchs, und irgendwann auch für Außenstehende unübersehbar wurde, brachte sie näher zusammen, als es die Nachmittage in den Dünen bei der alten Saline oder die Abende in einem der leer stehenden Zimmer der Pension vermocht hatten. Als Paola schließlich mit ihren Eltern sprach, und der Sturm über sie hereinbrach, hatten sie ihn so oft vorweggenommen, dass er ihnen nichts anzuhaben vermochte. Gleichmütig ließen sie alle Anfeindungen über sich ergehen. Die Überredungsversuche und mit Drohungen gespickten Angebote blieben ohne Wirkung, im Gegenteil, sie schweißten sie noch mehr zusammen. Es war viel leichter, als sie befürchtet hatten.
Vielleicht war es diese Entschlossenheit, die den Widerstand der Familien brach, der Umstand, dass jeder auf sie ausgeübte Druck, sie nur sicherer zu machen schien.
Paola konnte stundenlang mit ausdruckslosem Gesicht die Ausbrüche der Mutter ertragen, ihr Weinen und Flehen, die Anschuldigungen, die sie abwechselnd ihr, sich selbst, dem Kindermädchen, ihrem Mann und Gott und der Welt zu machen pflegte. Und wenn Paola ihren Vater genauso hasserfüllt anschrie, wie er sie wenige Minuten zuvor angeschrieen hatte, ließ sie ihn stumm und fassungslos zurück. Vieri dagegen entzog sich den Aussprachen, die Stefano oder Gina ihm aufzuzwingen versuchten. Er stieg auf seine Vespa und fuhr nach Viareggio, um erst in den frühen Morgenstunden zurückzukehren.
Als Paola Vieri im Juni heiratete, geschah dies mit Einverständnis ihrer Eltern, ein Einverständnis, das mit dem Angebot einherging, sie und das Kind könnten im elterlichen Haus wohnen bleiben, während der mit wenig Begeisterung angenommene Schwiegersohn sie besuchen könne, wann immer es ihr notwendig erschien.
So kam es, dass sich zunächst wenig oder nichts änderte. Paola war froh, dass ihr die Flucht in eine ungewisse Zukunft oder Schlimmeres erspart worden war, und wenn Vieris Blick hinauf zu den Marmorbergen ging, atmete er auf. Die Steinbrüche waren so fern, wie sie es die ganzen Jahre über gewesen waren.
Vieri kam und ging. Seitdem Paola ihr Romanistikstudium in Pisa aufgegeben hatte, fuhr er allein dorthin. Die Nächte verbrachte er in den Gewölbekellern der Jazzclubs, und wenn er in Portoclemente oder Pietrasanta war, sah man ihn manchmal mit zwielichtigen Gestalten Geschäfte machen oder mit Frauen herumfahren, die für ihren zweifelhaften Lebenswandel bekannt waren. Paola, der solche Gerüchte zu Ohren kamen, weigerte sich stets, deren Wahrheitsgehalt auch nur in Betracht zu ziehen. Die von ihren Freundinnen scheinheilig vorgebrachten Andeutungen waren für sie eine Fortsetzung der Anfeindungen, denen sie vor ihrer Hochzeit ausgesetzt gewesen war. Aus ihnen sprach nur Neid, Missgunst und Unverständnis.
Wenn Vieri Frau und Kind im Haus der Del Neros besuchte, glich er einem entfernten Verwandten. Er läutete, ließ sich vom Hausmädchen hereinführen und wartete auf Paola. Beim gemeinsamen Abendessen, verebbte jedes Gespräch mit ihren Eltern schon nach wenigen Sätzen. Im langen Schweigen, das dann folgte, wuchs die Spannung, bis ihm jedes Klappern der Porzellanteller, des silbernen Bestecks überlaut vorkam, die gleißenden Kronleuchter wie Verhörlampen erschienen. Hastig beendete er die Mahlzeit, lehnte Käse und Obst ab und flüchtete mit Paola nach oben. Selten blieb er über Nacht, selten
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