Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
fühlte er sich ein wenig zu Hause.
Seitdem Vieri die Wahrheit über Stefanos Vergangenheit herausgefunden hatte, fühlte er sich auch in der Pension nicht mehr zu Hause. Er lebte auf der Straße, wie es viele taten, die fünf oder zehn Jahre jünger waren als er. Immer häufiger schlief er in Pisa, bei einem Freund, mit dem er die Nächte durchsoff oder bei einer Frau, die ihn Paola vergessen lassen sollte.
Auf die Akte war er bei seinen Nachforschungen zum Tod von Stefanos Bruder, des Marinefliegers, gestoßen.
Mehr als einmal fragte er sich, warum Onkel Vieris rätselhafter Tod ihn so beschäftigte, warum sein Wunsch nach Aufklärung der Umstände sein ganzes Denken ausfüllte, bis er zu einer fixen Idee geworden war. Manchmal dachte er, in Onkel Vieris Tod läge der Schlüssel zu allem. Er sei nur einen Schritt davon entfernt, alles zu verstehen, ein Alles, das Lauras Geschichte einschloss, die seines leiblichen und die seines vermeintlichen Vaters, die der Großeltern und letztlich auch seine eigene. Dass seine Suche dazu führen würde, Stefano mit anderen Augen zu sehen, hatte er nicht erwartet.
Er fand die Akte, die die Sozialistische Partei, über seinen Onkel angelegt hatte, unter einem Haufen alter Koffer. Sie enthielt Abschriften, hand- oder maschinengeschriebene Originale, gelbes, zerfallendes Papier. Während der Staub, den er aufgewirbelt hatte im schwachen Licht träge zu Boden fiel, las er langsam und ohne zu verstehen. Dann setzte er sich auf eines der durchgesessenen Stühle und zündete sich eine Zigarette an. Er las die Akte erneut. Der blaue Rauch, den er in kurzen Abständen ausstieß, durchdrang das Meer der schwebenden Staubteilchen und verband sich mit ihm zu einer zähen Masse, die im Raum zu stehen schien. Er klappte die Akte zu, wischte mit dem Unterarm über die Pappe, um sich noch einmal des Namens zu vergewissern: Stefano Tarabella. Lange saß er unbeweglich da und starrte auf diese Inschrift, auf den aufgeprägten Wappen der Partei.
Als er Stefano zur Rede stellte, schien er äußerlich unbewegt. "Sag mir, dass das nicht wahr ist." Er warf die Akte auf den Tisch.
Stefano war beim Mittagessen. Er sah kurz auf, um den Blick gleich wieder auf seine Suppe zu senken. Der Löffel in seiner Hand schien gegen einen unsichtbares Hindernis gestoßen zu sein und hing in der Luft auf halbem Weg zu dem noch vollen Teller.
Vieri wiederholte seinen Satz. Er wiederholte ihn mehrmals, ohne dass Stefano ihm antwortete. Erst als sein Neffe das Zimmer verlassen hatte, begann er den Kopf zu schütteln, langsam hin- und her pendeln zu lassen, während der Löffel sich in die lauwarme Suppe senkte.
Später war Stefano hinaufgegangen. Vieri lag auf seinem Bett und rauchte. Als Stefano ins Zimmer trat, richtete er sich auf. Keiner sagte ein Wort. Stefano nahm eine Hand aus der Hosentasche, hob sie, als wollte er zu etwas ansetzen, und ließ sie wieder sinken. Sein schwerer, fast haarloser Schädel kippte, seinem Eigengewicht folgend, langsam nach vorn. Schließlich begann er.
Er holte weit aus. Er fing mit dem Mord der Faschisten an den sozialistischen Abgeordneten Matteotti an. Er erzählte von der ersten Hälfte der zwanziger Jahre, von einer Zeit, in der man sich auf der Straße auflauerte, um sich zu prügeln, in der man ein Messer bei sich trug, eine Pistole, und er erzählte von den ersten Anschlägen und Propagandaaktionen. "Zuerst war es wie Spiel." Er lächelte, ohne aufzublicken. "Katz und Maus. Räuber und Gendarm. So wie andere Kinder mit Holzschwertern kämpfen, hatten wir Schlagringe, Eisenstangen." Er machte eine lange Pause. Schließlich sah er seinen Neffen an. "Aber es ging immer weiter, immer weiter und weiter. Eines Morgens haben sie den Nachbarsjungen erstochen. Vor seinem Haus. Seine Mutter stand am Fenster." Er schüttelte den Kopf. "Erst an diesem Morgen wurde uns wirklich klar, dass es kein Spiel war, dass es um Leben und Tod ging. Einige sind ausgestiegen, ich habe mich in den Bergen versteckt. Jeder konnte der Nächste sein, jeder." Stefano ging zum Fenster und sah hinaus zum Meer. Ein paar Tage später war der Prefetto zu Piero gekommen, hatte ihm gedroht und ein Angebot unterbreitet. Während Stefano weitersprach, folgten seine Augen den Wellen, die in schneller Folge an Land rollten. Er hatte vor der Wahl gestanden, ins Gefängnis zu gehen oder mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Bald nach dem Besuch des Prefetto hatte er sich im Bezirksbüro der Faschistischen Partei
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