Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Alters kraftvoll wie ein Boxer. Sein Kopf war fast kahl, der Haarkranz kurz und ebenso schwarz wie sein bauschiger Schnauzbart. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, und Piero, der einen Kopf kleiner und eher untersetzt war, fühlte sich in diese Zeit zurückversetzt, meinte plötzlich die gleiche, an Angst grenzende körperliche Unterlegenheit zu spüren, die ihn durch Kindheit und Jugend begleitet hatte.
Und es war nicht nur die körperliche Unterlegenheit gewesen. Die Del Neros waren eine der einflussreichsten Familien der Stadt. Sie entstammten einem alten florentinischen Adelsgeschlecht, waren konservativ bis in die Knochen und hatten noch zum ungeliebten König Umberto I gehalten, als dieser den Hungeraufstand von 1898 niederkartätschen ließ. Als dann der Anarchist Bresci, der eigens aus New Jersey angereist war, um die Hunderte von Toten zu rächen, den König mit drei Pistolenschüssen niederstreckte, war es Piero, der dafür büßen musste. Es war in der Pause in jener abgelegenen Ecke des Schulhofes gewesen, wo sich die Vipern auf der Steinmauer sonnten, als Maurizio Del Nero über ihn herfiel, und es hatte genügt, dass er auf die toskanische Abstammung des Attentäters hinwies. Ob mit Stolz oder nicht, hätte keiner der umstehenden Klassenkameraden hinterher zu sagen gewusst. So war es weitergegangen bis zum Abitur. Und auch später, als sie sich nicht mehr prügelten, hatten die Auseinandersetzungen nicht aufgehört. Was der Anlass war – die großen Streikaktionen zu Beginn des Jahrhundert, die Beschießung der libyschen Hauptstadt Tripolis durch italienische Schlachtschiffe, später der Kriegseintritt Italiens –, war fast gleichgültig. Immer waren sie verschiedener Meinung, immer gerieten sie einander, und immer war es Piero, der sich als der Unterlegene fühlte. Warum, wusste er selbst nicht. Vielleicht war es das Geld, das der andere im Übermaß besaß, die Familie, die Stadt beherrschte, die öffentliche Meinung, die so eindeutig für die andere Seite Partei ergriff. Nur während des Biennio Rosso , jener zwei Nachkriegsjahre des Aufbruchs, in denen die Revolution vor der Tür schien, meinte er manchmal doch noch vor der Geschichte Recht zu behalten. Aber dann hatten sich die faschistischen Schlägertrupps gebildet. Gemeinsam mit dem reaktionären Bürgertum hatten sie das Feuer erstickt. Auch damals hatten die Del Neros an vorderster Front gestanden. An all das musste Piero denken als er dem Prefetto schweigend gegenübersaß.
Maurizio Del Nero nahm zwei Löffel Zucker und trank den Espresso in einem Zug. Einen Teller Spaghetti oder ein Glas Wein hatte er mit Hinweis auf das Abendessen ausgeschlagen, das ihn zu Hause erwartete. Er hielt noch die leere Tasse in der Hand, als er den Kopf neigte. Er schien den Stimmen zu lauschen, die vom Salon herüberdrangen. „Das Geschäft geht gut?“ Er nickte langsam. „Das freut mich, das freut mich.“ Er trank auch den Grappa. „Wie ich höre, hast du dieses Jahr wieder einen sehr, hm, sagen wir, internationalen Gästekreis...“
„Touristen...“
„Ja, natürlich, ausländische Touristen, was auch sonst?“ Er lachte trocken. „Und das ist gut so. Wir brauchen Devisen, wie du weißt, die Lira...“ Der Prefetto ließ sich eine Weile über Wechselkurse aus und die Bemühungen der Regierung, die heimische Währung aufzuwerten. „Obwohl das natürlich Gift für die Börse ist, Gift!“ Piero schenkte ihm einen weiteren Grappa nach, den er dankbar annahm, nachdem er zuerst abwehrend die Hände gehoben hatte. „Aber was will man machen. Italien muss endlich unabhängig werden vom Ausland. Autark, ja.“ Er tippte auf die Zeitung, die noch immer aufgeschlagen auf dem Tisch lag und den Duce mit nacktem Oberkörper beim Ernteeinsatz zeigte. „Die Schlacht ums Getreide! Und das ist erst der Anfang. Es ist eine Schande, dass ein so großes Land, seine Bürger nicht aus eigener Kraft ernähren kann, eine Schande.“
Piero warf ein, im Sportteil stehe, der Fußballverband habe ab der kommenden Saison erstmalig zwei ausländische Spieler je Mannschaft zugelassen. Doch er bereute sofort seine Bemerkung, denn die Miene des Prefetto verfinsterte sich. Unwirsch schob er das leere Schnapsglas zur Seite. Dann begann er vom Monolithen zu sprechen.
Er sei sehr erfreut, vielmehr glücklich darüber, dass die Bergarbeitergewerkschaft sich zu dieser großmütigen Geste entschlossen habe, freiwillig, wie er betonte. Jedermann wisse, dass gerade dieses ein
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