Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
du?"
Das Flugblatt war eine Schmähschrift gegen die Faschisten. Es wurde an die jahrtausendealte Tradition der Bergarbeiter erinnert, an den ebenso langen Kampf gegen die Ausbeutung, an ihre täglichen Mühen und die Gefahren, denen sie ins Auge schauten, wenn sie den Stein brachen und hinunter ins Tal schafften. Niemals hätten die stolzen cavatori den Monolithen, dieses größte Wunder ihrer Hände Arbeit, freiwillig dem Duce geschenkt. Und so wolle man ihn lieber mit einer Bombe auf den Grund des Meeres schicken, als ihn als Colonna Mussolini auf dem Forum in Rom stehen sehen, wie Verhöhnung der Bergarbeiter und der ganzen Küste. Ganz unten stand wie eine Unterschrift, ein Bekenntnis: ANARCHIA O MORTE!
Es war die Nacht vom vierzehnten auf den fünfzehnten August gewesen, die Nacht vor Ferragosto , vor dem großen Tag.
Maximilian lag im Sand, den Oberkörper auf die Ellbogen gestützt, den Kopf im Nacken. Er starrte in die sternklare Nacht hinauf. Sein Blick ging nach Westen. Er suchte die Sternbilder seiner Kindheit. Er dachte an die Abende zurück, an denen ihm sein großer Bruder den Himmel erklärt hatte. Wilhelm mit dem Fernrohr. Wie sehr hatte er ihn darum beneidet! Mit seiner erwachsenen Stimme hatte ihm Willi die Namen der Sterne aufgezählt, hatte durchs Rohr geblickt, und Maximilian war seiner Hand gefolgt, die in die Dunkelheit griff, als könne er damit die Sterne vom Himmel holen. Flimmersteine, so hatte er sie als Kind genannt. Manchmal hatte er ihn durch das kostbare Gerät schauen lassen, kurz, und Maximilian hatte die Nebel gesehen, die hellen Planeten, die Krater eines pockennarbigen Mondes. Aus der Entfernung der Jahre schienen diese wenigen Stunden die einzige glückliche Erinnerung an den Bruder zu sein, die wenigen Stunden, in denen der Altersunterschied geschrumpft war, dann, wenn er ihm das Fernrohr gereicht und eine Hand auf die Schulter gelegt hatte.
Willi, Willi, dachte er, während er hinaufstarrte, auf welchem dieser kostbaren Flimmersteine sitzt du nun?
Er hatte keine Mühe, die Sternbilder wiederzufinden. Sie standen dort, wo sie stehen sollten. Wie brave Soldaten waren sie auf ihrem Posten: Herkules kämpfte mit dem Drachen, die Nördliche Krone strahlte einsam und hell und der Bärenhüter mit dem goldgelben Arcturus verfolgte den Großen Bären, an dessen Fersen schon die Jagdhunde kläfften.
Über den Bergen hing die dünne Sichel des abnehmenden Mondes, leuchtete rötlich wie ein Stück Orangenschale. Das Meer lag schwarz und endlos und unbeweglich da, eine undurchdringliche Fläche, die jedes Fünkchen Licht zu verschlucken schien, an den Sternen zehrte und am Mond, so dass man meinte, sie könnten jeden Augenblick ganz verlöschen. Einzig die Wellen, die sich mit einem leisen Fauchen brachen und den Kies auf ihren Weg hinauf und hinunter leise rieseln ließen, klangen vertraut.
Maximilian hatte es in seinem Bett nicht mehr ausgehalten. Laura war kurz nach Mitternacht aufgestanden, um zurück in ihr Zimmer zu gehen. Sie hatten sich gestritten, so wie einige Male zuvor in den letzten Tagen. Laura war in Sorge um ihren Bruder Stefano gewesen, eine alte Angst, die sie seit dem Tod Vieris Jahr um Jahr zurückgedrängt hatte und jetzt wieder aufgebrochen war, mit Stefanos abermaliger Flucht neue Nahrung gefunden hatte und auch ihn, Maximilian, mehr und mehr mit einschloss. Hinzu kam, dass die Zukunft, die sie sich Nachmittag für Nachmittag, Nacht für Nacht ausgemalt hatten, zu verblassen begann. Eine Zukunft, die zu einem beliebigen Traum geworden war, je häufiger sie sie beschworen hatten. Seit Tagen hatten sie nicht mehr über ihre gemeinsamen Pläne gesprochen, und so, wie diese Zukunft schwand, begann auch ihre Gegenwart zu verblassen. Als bedürfe sie notwendigerweise einer Fortsetzung, als bemesse sich ihr Wert nach dem, was irgendwann möglich wäre, begann sie zu schrumpfen, eine durchscheinende Membran, die der überhand nehmenden Vergangenheit nur noch wenig Widerstand entgegensetzen konnte. Und auch seine Beteuerungen, seine Versprechen schienen sich abgenutzt zu haben, schienen sie nicht mehr zu überzeugen.
Je länger er im Sand lag, umso wärmer wurde ihm. Über ihm die Sterne, hinter ihm die Berge, vor ihm das Meer. Und sonst nur Sand, endlos wie eine Wüste. Er war allein, und für einen Augenblick wünschte er sich, so allein zu sein, wie er sich fühlte; keine Laura und keine Anne, keine Eltern, keine zwei Lebenslinien, die sich vor ihm öffneten breit
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