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Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Titel: Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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wie Straßen. Eine von ihnen würde er beschreiten, und so vielversprechend beide schienen, seine Entscheidung bedeutete auch unweigerlich das Ende für die jeweils andere. Und es war dieses Ende, das an ihm zerrte, der Abschied, den er nehmen musste, der ihm die Entscheidung unmöglich machte. Eines dieser Leben musste er begraben, und er fühlte sich außerstande zu entscheiden, welches.
    Lange lag er da, fast unbeweglich, fühlte in sich etwas von einem zum Tode Verurteilten, von einem, der weiß, dass er irgendwann aufstehen muss, um seinen letzten Gang anzutreten. Diese Nacht war seine Henkersmahlzeit, und er dehnte sie aus bis in den Morgen, bis zu jenem Zeitpunkt, da die Berge von einem unsichtbaren Licht beleuchtet aus der Nacht treten.
    Irgendwann auf dem Höhepunkt seiner Verzweiflung stützte er sich auf, um das Meer zu sehen, und so schweigend wie es dalag, erschien es ihm so friedlich, so verlockend, dass er aufstand, um mit nackten Füssen hinauszugehen in das seichte Wasser.
    Zuerst schien das Wasser kalt, sehr kalt, doch dann wurde es wärmer, so warm, dass er es kaum noch spürte. Er ging einen Schritt, dann noch einen, er versank langsam in dieser Wärme, in dieser Feuchtigkeit, die an ihm leckte, ihn schmeichelnd hinabzog, und es wäre ein Leichtes gewesen, weiterzugehen, Schritt für Schritt hinabzusteigen bis auf den Grund. Er dachte an die Nacht zurück, bevor er sich in seinem letzten Schuljahr freiwillig für die Front gemeldet hatte. Auch da hatte er gerungen, endlos mit den Erwartungen und Verpflichtungen, mit seinen Wünschen, die er nicht mehr spürte, die ihm irgendwann fremd wurden, dachte er nur lange  genug darüber nach. Aber heute, in dieser Nacht gab es keine Front, für die er sich hätte entscheiden können, es gab nur Leben, das eine so erstrebenswert wie das andere, und wenn es einen Tod gab, den er wählen konnte, dann lag er vor ihm, lag vor ihm in Gestalt der Schwärze, die an ihm zog, deren Lockruf er nur hätte nachzugeben brauchen. Klein fühlte er sich, und er wusste, dass es gleichgültig war, wie er sich entschied, ob er weiterging oder zurück nach Deutschland oder in Italien blieb. Einzig wichtig wäre gewesen, sich zu entscheiden.
    Dort, bis zu den Hüften im Wasser, kam ihm die rettende Idee. So lange wie möglich wollte er Italien bleiben, um dann nach Deutschland zurückzukehren. Nur wenige Wochen, einen Monat oder höchstens zwei, bis zu Hause alles geregelt war. Dann käme er zurück, für immer, und obwohl er sich das fest vornahm, war ihm, als sei ihm ein Aufschub gewährt worden, eine Gnadenfrist, bis er sich endgültig zu entscheiden hätte.
    Dann stieg er aus dem Wasser, sah hinauf zu den Bergen, die matt im schwachen Mondlicht schimmerten. Ja, er würde zurückkommen, das wollte er aus ganzem Herzen.

2. Buch

1 . Kapitel
     
    Fast auf den Tag genau achtzehn Jahre danach stieg er aus dem Schnellzug aus Mailand. Es war ein heißer und staubiger Nachmittag im September, und das kleine Städtchen lag grau oberhalb des sich öffnenden Flusstals. Irgendwo dort unten war das Meer. Es war diesig, und in der flirrenden Luft verschwommen die Berge ringsum, gingen die Kastanien- und Buchenwälder, die die wenigen Dörfer umgaben, in den ausgebleichten Himmel über. In der Ferne brummte ein Flugzeug.
    Er schloss die Koppel, zog seine Schirmmütze auf, verabschiedete sich von den beiden Offizieren, die in Fidenza zugestiegen waren, nahm sein Gepäck, öffnete die Coupétür und stieg die hölzernen Stufen hinab. Der Bahnsteig quoll vor Menschen über. Überall gingen und standen Uniformierte, deutsche Soldaten zumeist, aber auch Carabinieri, faschistische Milizen und einige italienische Marineoffiziere. Zivilisten umstanden die vollbesetzten Waggons der dritten Klasse, Frauen mit Kisten, Taschen und Bündeln, mit schreienden Kindern und ältere Männer, die still in der Sonne warteten.
    „Willkommen in Italien, Herr Hauptmann“, plötzlich stand ein Unteroffizier vor ihm, salutierte, und Hauptmann von Kampen, der meinte, eben erst den Fuß auf den Bahnsteig gesetzt zu haben, wunderte sich, woher dieser so schnell gekommen sei und wie er ihn erkannt habe. Gerhard Seewald stellte sich als sein persönlicher Adjutant vor. Er schien sehr jung und mochte doch einundzwanzig oder zweiundzwanzig sein. Wäre die süddeutsche Sprachfärbung nicht gewesen, die graue Uniform, er hätte aus einem der Bergdörfer stammen können, aus einer der Städte der Küste. Seewald nahm

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