Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Oceano. Dort hatte Hauptmann Guderjahn seine Kommandantur aufgeschlagen, ein dunkles Büro mit kaum mehr als einem Schreibtisch und einem wurmstichigen Aktenschrank. In den wenigen Zimmern waren sechs Soldaten untergebracht, die ganze Besatzungsmacht des kleinen Ortes. Und dass er sich als Besatzer fühlte, daran hatte Hauptmann Guderjahn keinen Zweifel gelassen. Glaubte man seinen Worten, so wimmelte es in Monteforte von Anarchisten und Kommunisten, von Verrätern und anderen subversiven Elementen. Nicht umsonst sei einer der brutalsten Attentate auf den Duce einem Sohn der Stadt zuzuschreiben. Und so stand im Eingangstor des Hotels Tag und Nacht eine Wache mit entsicherter Maschinenpistole.
Gleich nach dem Frühstück, das ein Gefreiter zubereitet hatte, fuhren sie wieder los. Maximilian brannte darauf, alles wiederzusehen, und so hatte er beschlossen, den verschiedenen Posten zwischen La Spezia und Pisa einen Antrittsbesuch abzustatten.
Der Regen hatte aufgehört, und graue Wolken jagten vom ersten Herbststurm getrieben den Bergen entgegen. Die Straßen hatten sich bevölkert, die Frauen gingen zum Markt, die Männer diskutierten in kleinen Gruppen vor den Cafés. Überall stand das Wasser in riesigen Pfützen, und Maximilian musste seinen Fahrer, der den Wagen so kunstfertig wie gedankenlos durch die Gassen steuerte, mehrmals auffordern, Rücksicht auf die Passanten zu nehmen.
Vom Militärgericht in La Spezia ging es zum Arsenal am Hafen und dann zurück nach Massa zum italienischen Bezirkskommando. Am Nachmittag waren sie in Viareggio, in Pisa, in Lucca. Überall sprach er mit Offizieren und hochrangigen Beamten, mit Italienern und mit Deutschen. Überall ergab sich das gleiche Bild. Niemand hatte eine Vorstellung, wie es weitergehen würde. Seine Landsleute, wie er erst seit wenigen Tagen oder Wochen im Land, versuchten, sich zunächst einmal im unentwirrbaren Geflecht der Verantwortlichkeiten und Befugnisse zurechtzufinden. Carabinieri, Polizei, Militär, faschistische Milizen, jeder wollte gefragt werden, erklärte sich aber sogleich für nicht zuständig. Hinzu kam, dass viele Dienststellen verwaist, ganze Militärabteilungen aufgelöst waren. Die Italiener hielten sich bedeckt. So uneingeschränkt bereit sie sich zu einer Zusammenarbeit erklärten, so unbestimmt blieben ihre Zusagen, und mehr als einmal hatte Hauptmann von Kampen den Eindruck, sie wollten sich alle Möglichkeiten offen halten, schließlich waren die Alliierten unlängst bei Salerno gelandet und schnell nach Norden vorgestoßen. Wer wollte schon wissen, wann die ersten amerikanischen Panzer sich auf dem Platz der Wunder in Pisa zeigten, um dann auf der Staatsstraße 1, der Via Aurelia, die von Rom die Küste entlang bis hinauf nach Frankreich führte, weiter bis Viareggio, Massa oder gar La Spezia vorzurücken?
So gelang es Maximilian an seinem ersten Arbeitstag in Italien lediglich, sich ein ungefähres Bild der Lage zu machen. Sie waren schon auf dem Rückweg, als sie am späten Nachmittag nach Pietrasanta kamen.
Langsam fuhren sie am Bahnhof vorbei, und Maximilian sah lange zum überdachten Bahnsteig hinüber. Die Strecke war elektrifiziert worden. Überall standen Kübeln mit Palmen und Sträuchern. Vom Ruß befreite Wände und vom Geröll geräumte Anlagen verliehen dem Bahnhof ein neues, freundliches Aussehen.
Auch in der Stadt selbst hatte sich einiges geändert. Es waren nicht die allgegenwärtigen Parolen an den Häuserwänden, die Maximilian auffielen: Der Duce hat immer recht! Der Duce irrt nie! Das erste, was er auf der Piazza Carducci bemerkte, war das Fehlen der Straßenbahn. Hier hatte sich die elektrische mit der dampfbetriebenen getroffen. Der italienische Marinesoldat, den sie auf freier Strecke aufgelesen hatten, erzählte bereitwillig, die Linien seien schon Mitte der dreißiger Jahre für den Personenverkehr eingestellt worden.
Vielleicht war es dieser Umstand, der Maximilian veranlasste, den Fahrer die Straße am Fluss hinunter nach Portoclemente fahren zu lassen, die Unruhe, die sich angesichts all der Veränderungen in ihm breit gemacht hatte, so als würde ihm erst jetzt bewusst, wie viel Zeit vergangen war. Er hatte Angst, seine Erinnerungen der harten Wirklichkeit auszusetzen, Erinnerungen, die er über die Jahre gepflegt hatte wie Beete voll exotischer Blumen und seltener Pflanzen, die er beschnitten, so lange umgesetzt und angeordnet hatte, bis sie vollkommen waren. Und doch musste er sich Gewissheit
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