Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
heißen und staubigen Nachmittag im September, an dem er zurückgekehrt war.
Seitdem war kaum mehr als ein halbes Jahr vergangen, und Maximilian fragte sich, ob in der Zwischenzeit viel oder wenig geschehen war. Er fragte sich, was diesen Frühlingstag von jenem Herbsttag unterschied, ob er damals mit Erwartungen und Hoffnungen angekommen war, mit Erwartungen, die sich erfüllt hatten oder mit Hoffnungen, die enttäuscht worden waren.
Er war früh aufgestanden, um rechtzeitig bei Knippschild zu sein. Jetzt fühlte er sich müde. Seine Beine waren schwer, sein Kopf von einem steten Brausen erfüllt, das sich in seine Gedanken mischte und ihn im Gleichklang mit dem Brummen des Motors in den Schlaf zu wiegen drohte. Zu dieser körperlichen Müdigkeit kam eine tiefe Mut- und Hoffnungslosigkeit hinzu, die ihn mehr und mehr lähmte. Von Tag zu Tag spitzte sich die Lage zu, und so sehr er sich auch mühte, meist war es vergebens. Was blieb, war die Verantwortung, die ihn zu erdrücken drohte, und die Hilflosigkeit, wenn wieder einmal Todesurteile oder Säuberungsbefehle durch seine Hände gingen.
Und so schien an diesem Vormittag die Natur das einzig Erfreuliche zu sein, das Leben, das überreich aus dem Boden trieb, die balzenden Vögel in den Bäumen, das schäumend zu Tal schiessende Wasser des Flusses.
Aber es gab noch etwas anderes, was in jenem Herbst noch nicht da gewesen war. Heute hatte er Angst. Trotz des Stahlhelms auf seinem Kopf kam er sich schutzlos vor. Sein Blick ging zu den dicht bewachsenen Hängen, und so menschenleer das Land schien, durch das sie fuhren, an diesem Tag fühlte er sich beobachtet. Viele Augen ruhten auf ihn, Augen und vielleicht auch die Zielfernrohre der Scharfschützen. Sein Nacken war hart und angespannt. Als sei diese kleine Stelle zwischen Kopf und Rücken der Mittelpunkt seines Körpers, schienen all seine Empfindungen dort zusammenzulaufen. Jeden Augenblick konnten sie ihn treffen, und er fragte sich, was er spüren würde, wie schnell es ginge, wie viel Zeit, wie viel Schmerz ihm bliebe. Tiefer drückte er sich in den Sitz seines Wagens.
Schon als Jugendlicher hatte er den Frühling wie ein zum Tode Verurteilter durchlitten. Es war, als sei ihm in dieser Jahreszeit der Tod besonders nahe. Ein Tod, den er stets in sich spürte, den er zwar auf ein fernes Irgendwann verlegt hatte, der aber dennoch unweigerlich käme. Letztlich machte es keinen Unterschied, wie viel Zeit ihm noch blieb, ob es Jahrzehnte waren oder nur Jahre, Tage vielleicht. Es änderte nichts.
So blieb er ein Fremder in einer erwachenden Welt. Es war, als sei er der einzige, der zurückbleiben musste, während alles um ihn herum zum Leben erwachte, aufbrach zu einem neuen Zyklus, wie die Pflanzen, die austrieben, die Tiere mit ihrem neugeborenen Nachwuchs, die Menschen, die sich verliebten, die den Stillstand des Winters so leicht abzuwerfen schienen, als könnten sie tatsächlich jedes Jahr von vorne anfangen. Nur er sah den Tod auf sich zukommen, so deutlich, als sehe er in all dem Leben um sich herum nur dessen Spiegelbild. So ging es ihm auch an diesem Tag, als er zur Casa Letizia zurückkam.
In Monteforte war es warm. Grell schien die Sonne von einem aufgeräumten Himmel herab. Nur vereinzelte Wölkchen trieben in der landwärts wehenden Brise den Bergen entgegen.
Schon vor dem Haus wusste er, dass etwas nicht stimmte.
Laura war nicht da.
Zuerst hoffte er, sie sei etwas besorgen gegangen, doch dann stellte er fest, dass sie an diesem Tag gar nicht gekommen war. Sie konnte krank sein, es konnte ihr etwas auf dem Weg hierher zugestoßen sein, Möglichkeiten, die er in Betracht zog, sich fast wünschte angesichts des Verdachts, der im Laufe des Tages mehr und mehr zur Gewissheit wurde. Er hatte sie ein zweites und dieses Mal für immer verloren.
Den ganzen Tag war er unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, sein schnell klopfendes Herz trieb ihn zu langen Wanderungen durch das Haus, stets hin und her auf der Suche nach einem Grund, nach etwas, was er übersehen hatte, einem Anzeichen, einer Bemerkung, einer Andeutung.
Als sie dann am späten Nachmittag plötzlich vor ihm stand, war er so erstaunt, als sei sie eine übernatürliche Erscheinung und nicht ein Mensch aus Fleisch und Blut. Und es war Blut, das in ihr brodelte, denn Laura schien wütend, außer sich. Die Hände hatte sie in die Hüften gestemmt, böse funkelte sie ihn an.
„Du hast es nicht einmal verdient, dass man dir erklärt, warum
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