Die Nacht zum Dreizehnten
der zu dem Zimmer gehörte. Kopfschüttelnd betrachtete sie sich. Jetzt war sie also eine Schwester! Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr machte ihr dieses Spiel Spaß. Sie freute sich schon auf den Augenblick, wenn sie ihre wahre Identität lüften würde. Noch wußte sie nicht, wie sie es anstellen sollte, aber irgendwie mußte es mit einem kleinen Knall geschehen.
Sie schaute sich noch einmal in dem Zimmer um und ging dann den Flur entlang. Sie hatte auf dem Hinweg gesehen, daß sich auf dem Hof eine öffentliche Telefonzelle befand. Sie mußte ihren Vater anrufen. Das hatte sie ihm versprochen. Und konnte dabei gleich mit ihrem Sohn David telefonieren. Der zehnjährige Junge war traurig gewesen, als sie ihm klarmachte, daß sie eine Zeitlang wegfahren müßte.
Die Telefonzelle war leer. Sie trat ein, schloß die Tür und nahm aus ihrer Tasche Kleingeld. Sie wählte die Klinik ihres Vaters. Es dauerte lange, bis sie ihn bekam.
»Eben hat Professor Bergmann aus Paris angerufen«, sagte er. »Er hatte vergessen, uns mitzuteilen, daß du erst ein paar Tage später zu kommen brauchst. Nun, mach dir ein paar schöne Tage! Geh´ ins Römisch-Germanische Museum, schau dir die schönen romanischen Kirchen Kölns an, fahre mal ins Bergische Land …«
»Ich arbeite schon!« erklärte Ariane lachend ihrem Vater. »Aber du wirst nicht erraten können, wie und wo!«
»Hat man dich etwa schon zum Operationsdienst eingeteilt?«
»Nein –, zum Schwesterndienst!«
»Zu was?« Professor Quenstadts Stimme klang überrascht. »Sagtest du – Schwesterndienst?«
»Ja – man hält mich hier zunächst für eine Krankenschwester, die wohl heute ihren Dienst antreten sollte, die aber anscheinend nicht eingetroffen ist.«
»Du bist verrückt! Du kannst doch keine Schwesterndienste machen. Wie kommt man überhaupt dazu, dich einzustellen? Hast du ihnen denn nicht gesagt, wer du bist?«
»Nein – aber laß nur«, beschwichtigte sie ihren Vater, der wieder empört auffahren wollte. »Ich finde es wunderbar! Weißt du, daß ich jetzt erst Menschen kennenlerne, wie sie wirklich sind? Jetzt haben sie keinen Respekt vor mir, weil das Wort ›Professor‹ fehlt. Jetzt bin ich ihresgleichen – oder sogar noch etwas darunter. Es macht mir wirklich Spaß! Ich werde dir einen ausführlichen Bericht geben, wenn wir uns wiedersehen.«
Es entstand eine Pause. »Nun ja – des Menschen Wille ist sein Himmelreich! Hoffentlich zieht man dich nicht zu allzu schmutzigen Arbeiten heran!«
»Ich arbeite in einer mir vertrauten Atmosphäre – im OP. – Kannst du mir jetzt mal David geben?«
»Er steht schon neben mir und möchte mir am liebsten den Hörer aus der Hand reißen. Arbeite nicht zuviel und überlege es dir gründlich, ob es dieser Spaß wirklich wert ist …«
»Hallo, Mami!« Die Stimme des Zehnjährigen klang durch den Apparat. »Du fehlst mir an allen Ecken. Ich habe aber alle meine Schularbeiten fertig. Wann kommst du wieder?«
»Das wird noch eine Weile dauern. Sei lieb zum Opa und ärgere ihn nicht allzusehr. Ich bringe dir auch etwas sehr Schönes aus Köln mit, wenn ich zurückkomme.«
Sie machte das Geräusch eines Kusses. Es wurde von David stürmisch erwidert.
»Ich muß jetzt Schluß machen. Das eingeworfene Geld ist gleich aufgebraucht. Mach's gut und auf Wiedersehen, mein Liebling.« Sie legte den Hörer auf und verließ die Telefonzelle.
Ihre Gedanken waren ganz bei dem kleinen David, ihrem unehelichen Sohn, der seinen Vater nie kennengelernt hatte. Sie hatte damals als junges Mädchen in Saint Tropez Dietmar Bursoni, einen angehenden Schlagersänger, kennengelernt und sich in ihn verliebt. Als sie nach Deutschland zurückkehrte, stellte sie fest, daß sie ein Kind von ihm erwartete. Als sie versuchte, ihn zu erreichen, war er verschwunden.
Später las sie seinen Namen oft in der Zeitung. Er war ein gefeierter Schlagerstar geworden, aber sie hatte niemals wieder versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Der kleine David gehörte jetzt ihr – ihr allein. Sie wollte ihn mit keinem anderen Menschen teilen – und schon gar nicht mit einem so berühmten Mann, wie Dietmar Bursoni es geworden war. Sie hörte ihn oft im Radio singen, aber sie hatte es bisher vermieden, zu einem seiner Konzerte zu gehen. Sie wollte ihn einfach nicht wiedersehen.
Die Erinnerung an jene Zeit vor fast elf Jahren war so schön, daß sie sie nicht durch die Gegenwart zerstören wollte. Sie glaubte sicher zu sein, daß der
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